Das schreckliche Gesicht

Im Jahre 1464 traten im Wiener Rathaus vier Ratsherren zu einem Beschluß zusammen. Als sie sich nach manchem Bedenken darüber einig wurden und im Begriffe waren, den Beschluß durch ihre Unterschrift zum Gesetz zu erheben, erschien im Ratssaal plötzlich das ernstdrohende Antlitz eines Christuskopfes, von seinem Nimbus umgeben, als schreckliches Mahnmal. Tief erschrocken, bestürzt und zitternd, blickten die Ratsherrn einander an. Die fürchterliche Erscheinung mahnte ihr Gewissen und als sie zerfloß, blieb das Schriftstück ununterschrieben. Als die Sache aber ruchbar wurde, meinte das Volk, daß die Herren da etwas recht Unbilliges im Schilde geführt hätten, wovon sie nun abgeschreckt worden seien. Zum ewigen Gedächtnis und zur eindringlichen Warnung aber ließ man den Kopf des kommenden Weltenrichters in seiner Erscheinung abmalen und im Ratssaal aufhängen.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 58, S. 77
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005.