Die himmlische Hilfe beim Kirchenbau

Der alte Baumeister Folkner beschäftigte sich mit den Plänen für den Bau der Stephanskirche. Als er einst in der Bauhütte über seinen Rissen in Gedanken vertieft saß, erschien ein blonder Jüngling und ersuchte ihn um Aufnahme als Geselle. Folkner nahm ihn auf und hatte es nicht zu bereuen, denn der neue Geselle war in der Baukunst so erfahren, daß er mehr als der Meister schaffen konnte. Schon nach vier Jahren ragten die beiden Türme, nämlich die "Heidentürme", empor und der Bau war vollendet. Da begehrte der Geselle seinen Abschied. Folkner fiel es schwer, ihn zu entlassen. Der Jüngling ließ sich aber nicht zurückhalten, mit der Begründung, daß er noch bei anderen Kirchenbauten seine Tätigkeit entfalten müsse, und versprach schließlich dem alten Meister, ihn bestimmt noch einmal zu besuchen. Nach Jahren erkrankte Folkner und war sein Ende nahe. Da fiel ihm der treue Geselle ein und er klagte, daß jener sein Versprechen vergessen habe. Kommt er zu spät, so wird es ihn schmerzen, an seinem Grabe zu stehen! Plötzlich hörte der sterbende Meister eine himmlische Musik in seinem Zimmer, und vor ihm stand sein geliebter Geselle, jugendlich wie damals, im schimmernden Gewande und mit einer Lilie in der Hand. Glücklich und doch bitter lächelnd blickte der Meister auf die Erscheinung und erkannte nun, wer der Geselle gewesen, der beim Baue der Kirche so werktätig mitgeholfen hatte. Es war ein Engel, ein himmlischer Baumeister.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 65, S. 82
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005.