Das Armensündergäßchen

Vor Jahren konnte man beim Eingang in das Armensündergäßchen im 3. Bezirk eine ältere Frau bemerken, die aufmerksam die Länge des Gäßchens durchmusterte. Nach einer Weile rief sie ein Mädchen zu sich und verlangte von ihm, ihr durch das Gäßchen das Geleite zu geben, worin das Mädchen einwilligte. Kaum hatte das Mütterchen einige Schritte nach vorwärts gemacht, so prallte sie zurück und nahm wie erschreckt ihren vorigen Platz an der Straßenecke wieder ein. Als das Mädchen fragte, warum ihr die Alte nun nicht folgte, blieb ihr diese die Antwort schuldig. Mittlerweile lenkte ein Handwerker in das Gäßchen ein was das Mütterchen abgewartet zu haben schien, denn jetzt machte es sich mit einer unverkennbar zuversichtlichen Miene auf die Beine, gesellte sich wieder zu dem Mädchen und ging raschen Schrittes des Weges.

Das alte Mütterchen war eine Gärtnerswitwe der Erdberger Vorstadt und hatte die sonderbare Meinung, daß von den Personen, die gleichzeitig in ungerader Zahl eine und dieselbe Gasse betreten, einer binnen Jahresfrist irgendein Unfall zustoße. Ganz vorzüglich sei dies aber, wie sie fest behauptete, mit dem Armensündergäßchen der Fall, was sie durch viele Beispiele, die sie selbst erlebt haben wollte, außer Zweifel zu sehen suchte. Diesem sei ein teures Kind gestorben, jener habe einen großen Geldverlust erlitten, eine Frau sei zur Witwe geworden, ein Mann habe sich das Bein und ein Schusterlehrling eine gefüllte Weinflasche gebrochen.

So oft nun die Alte das unheimliche Gäßchen durchschreiten mußte, zählte sie jedesmal genau die darin sich ergehenden Personen und betrat dasselbe nicht eher, als bis die gerade Menschenzahl darin vorhanden war. Sie war daher zurückgelaufen, weil eine von zwei im Gäßchen gehenden Personen in ein Haus getreten war, wodurch die Zahl der Anwesenden ungerade wurde, was durch den Eintritt des Handwerkers wieder hinfällig wurde.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 116, S. 127f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, Mai 2005.