Der Sieveringer Sagenkreis um Karl und Agnes

IX. [Version]

Da, wo jetzt Untersievring ist, befand sich vor Zeiten ein großer Urwald und darin eine Jägerhütte. Der Jäger schickte einst seinen Burschen auf den Anstand; dieser kam auf die Jägerwiese und stellte sich hinter einen Baum. Da sah er spät in der Nacht eine Prozession von lauter weißen Frauen; nur eine, die in der Mitte ging, war schwarz gekleidet und trug in der linken Hand ein weißes Sacktuch. Alle trugen brennende Fackeln, nur die mittlere eine abgebrochene Kerze in der rechten Hand. Als der Zug an dem Baum vorüber kam, ging die Schwarze auf den Jägerburschen zu und winkte ihm, zu folgen. Sie nahm ihn mit über Wiesen, Berge und Täler und endlich kamen sie vor ein schönes Kristallschloß, dessen goldene Tore versperrt waren. Auf einiges Murmeln der Schwarzen, die jetzt aus der Reihe hervorgetreten war, sprang die Tür auf und beide gingen hinein. Der Bursche blieb vor Staunen und Schrecken ganz sprachlos. Als sie eine gläserne Treppe hinaufgestiegen waren, zeigte ihm die Führerin eine Tür und verschwand. Der Bursche trat ein, kam in eine Küche und wärmte sich am Feuer. Da der ganze Palast schimmerte, so wußte er nicht, ob es Tag oder Nacht war. Plötzlich öffnete sich die Tür und es trat ein schwarz gekleidetes Männlein herein, das einen Hut mit sehr breiten Krämpen, rundherum mit silbernen Borten besetzt, trug. Am Hut hing eine silberne Quaste;
die Hose reichte nur bis an die Knie. Außerdem hatte es ein kurzes Wams an, rote Strümpfe und Schuhe mit silbernen Schnallen. Das Männlein sah dem Jägerburschen ins Gesicht und entfernte sich dann mit sonderbaren Mienen, ohne ein Wort zu sprechen. Dem Burschen wurde immer unheimlicher zumute; er wollte sich entfernen, fand aber keinen Ausweg. Plötzlich brach ein furchtbares Getöse aus, das das Schloß in seinen Grundfesten erschütterte. Auf einmal stand seine Begleiterin vor ihm und verlangte seine Weidtasche, mit der sie sich entfernte. Nun suchte er in seiner Todesangst überall Ausgänge. Da verschwand plötzlich das Schloß und er befand sich ganz allein auf der Jägerwiese, wo die Weidtasche auf dem Boden lag. Er hob sie rasch auf und eilte nach Hause. Dort wunderte man sich, daß er ein volles Jahr ausgeblieben war. Der Herr hatte bereits einen anderen Jägerburschen angenommen. Der Zurückgekehrte gab darum seine Weidtasche zurück, und als der Herr sie öffnete, war sie mit Goldstücken ganz angefüllt. Der Bursche erzählte nun alles, was ihm begegnet war. Als er aber den Herrn auf den Platz führte, wo er die schwarze Frau gesehen, wollte der Jäger auf den Burschen losdrücken, die Kugel kehrte sich aber um und traf den Jäger. An dieser Stelle der Jägerwiese soll damals ein Kreuz errichtet worden sein.


Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 6, S. 13f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, April 2005.