Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe

Kaiser Rudolf von Habsburg war in Erfurt, als er sich schwach zu fühlen begann, dem darauffolgenden Fürstentage zu Frankfurt vermochte er nicht mehr vorzustehen. Allen tat seine Krankheit weh; die Ärzte wandten ihr Möglichstes an, um ihn wiederherzustellen. Ein Jahr lang hielten sie ihn hin und erklärten seinen Zustand für die Überlast des Alters. Da nahm der Kaiser seinen Weg von Frankfurt nach der Burg Germersheim. Als seine Schwäche merklich zunahm und keine Hilfe mehr möglich schien, wurden die Ärzte unter sich eins, dem Kaiser die Wahrheit nicht länger zu verhehlen. Er saß gerade am Schachbrett, als einer der Ärzte ihm die betrübende Botschaft eröffnete und dabei bemerkte, daß ihm wohl höchstens noch fünf Tage übrig sein möchten. "Nun denn!" rief Rudolf, "wenn dem so ist, so ist meines Bleibens hier nicht länger. Laßt uns aufbrechen und nach Speyer ziehen, wo die anderen deutschen Könige begraben liegen!" Alle waren verwundert; aber der König nahm Abschied von dem wehklagenden Gesinde zu Germersheim und ritt fort in der Mitte zweier Geistlicher, die mit ihm von Gott und Ewigkeit sprachen.

Die Kunde von dem Vorgefallenen verbreitete sich mit Windeseile im Lande, und von überallher lief das Volk herbei an die Straße, die der Kaiser zog, um ihn noch einmal zu sehen.

In Speyer angekommen, bat er Gott um Verzeihung und bereitete sich aufsein letztes Stündlein vor, wie es ein gläubiger Mensch zu tun pflegt. Er bedachte alle seine Diener und Getreuen mit Gaben und ward hinweggenommen.

In der Stadt war die Klage groß. Man hatte nicht nötig, zum Begräbnis einzuladen; denn wer an den Ufern des Rheines seßhaft war, begab sich schleunigst nach Speyer, wo man den Kaiser begrub, wie er es selbst gewünscht hatte.

Quelle: Werhan, Karl, Die deutschen Sagen des Mittelalters, 2 Bde., München 1920, MA I, Nr. 158