Der Ahnherr des Hauses Liechtenstein

Zur Zeit Karls des Großen lebte im Aichfeld bei Judenburg der kriegerische Aribo und bewohnte mit seiner Gattin Oda ein Steinhaus, das mit breitem Wallgraben und festen Mauern umgeben war. In ihrem einzigen Söhnchen Gerold, einem schönen, starken und lebhaften Knaben, hatten die Eltern ihren Stolz und ihre Freude.

Einst war Aribo zum Kampfe gegen die Awaren ausgezogen, und bangen Herzens warteten Mutter und Kind auf die Heimkehr des Vaters. Doch dieser kam nicht. Seine Waffengenossen brachten die traurige Kunde, daß er auf dem Schlachtfeld geblieben sei. Mutter und Sohn trauerten lange um den herben Verlust. Der junge Gerold wuchs indessen heran und bereitete sich ebenfalls zum Krieger vor, da er wie sein Vater für das Vaterland kämpfen wollte. Die Heerzüge Kaiser Karls gaben ihm Gelegenheit, in den Kriegsdienst zu treten, und bald erwarb er sich den Ruf eines wackeren, unverzagten Kriegers.

Einst brach ein Awarenschwarm in die Gegend ein und umzingelte das Steinhaus. Gerold und seine Knechte verteidigten sich aufs tapferste; als er jedoch sah, daß die kleine Feste nicht zu halten sei, zündete er sie selbst an, damit sie nicht in Feindeshand gerate. Daraufhin verließen die Awaren die Trümmerstätte.

Nun ergriff Gerold den Pflug, um für sich und seine Mutter Brot zu schaffen. Einst pflügte er mit seinen Stieren das Feld, da bemerkte er in einer frich aufgeworfenen Erdscholle ein herrlich glänzendes Gestein. Gleichgültig nahm er es an sich, um es seiner Mutter zu zeigen. Als er nach Hause kam und den Fund auf den Tisch legte, war es schon dunkel. Doch siehe, da verbreitete der Stein einen herrlichen Glanz, der die ganze Stube erfüllte und die Nacht zum Tage wandelte. "Welches Wunder, welche schönen Farben!" riefen sie und konnten nicht begreifen, wie aus kaltem Gestein funkenartige Strahlen sich ergossen. "Diesen Stein hat uns Gott gegeben", sprach der Jüngling, "morgen will ich ihn nach Judenburg tragen und verkaufen, denn er ist sicherlich viel wert."

Am Morgen ging Gerold in den nahen Wald zu einem frommen Klausner, der wegen seiner Weisheit in hohem Ansehen stand, und fragte ihn um seinen Rat. Der Alte besah das kostbare Gestein mit großer Aufmerksamkeit und sprach: "Gott hat dich da mit einem reichlichen Funde gesegnet. Verkaufe diesen Stein nicht, sondern umgürte dich mit dem Schwert deiner Väter, ziehe getrost zum großen Kaiser nach Aachen und bringe ihm deinen Fund zum Geschenk. Das übrige wird der Himmel fügen."

Dieser Rat gefiel dem jungen Manne. Mit Hilfe des Waldbruders sorgte er dafür, daß seine Mutter während seiner Abwesenheit keine Not zu leiden brauchte. Dann nahm er das Schwert, wappnete sich, bestieg ein Pferd, empfing den Segen der Mutter und ritt an den Hof des Kaisers.

Karl der Große befand sich damals im Kriege mit einigen sächsischen Grenzvölkern. Als Gerold dies erfuhr, beschleunigte er seinen Ritt und stieß bald zum Heere des Kaisers. Dieser nahm ihn gütig auf und gewährte ihm die Gnade, in seiner Umgebung Dienste leisten zu dürfen. Bald gewannen die Krieger den Jüngling lieb und erzählten ihm manche Rittertat. Dabei erfuhr Gerold zu seiner Freude, daß sein Feldhauptmann den Vater Aribo, der im Kampfe gegen die Awaren gefallen war, gar wohl gekannt habe.

Eines Tages kam es endlich zur Schlacht. Der Feind verrichtete Wunder an Tapferkeit, unentschieden wogte der Kampf hin und her und dauerte bis spät in die Nacht. Da nahm Gerold den lichten Stein und befestigte ihn an seinem Helme, wo er in der Dunkelheit strahlte wie ein riesiges Feuerauge. Vor diesem unerklärlichen Glanz wich der Feind in abergläubischer Furcht zurück, Gerold rückte mit seinen Leuten vor, und der Sieg neigte sich dem kaiserlichen Heere zu. Karl der Große aber vernahm die seltsame Märe von dem Feuerauge und beschied den Jüngling vor sich.

Gerold legte den lichten Stein zu des Kaisers Füßen. Der Karfunkel machte die Runde, und jeder besah ihn mit Erstaunen. Der Kaiser aber sprach: "Ich nehme gern dein Geschenk und erhebe dich zum Ritter und Edlen meines Reiches. Dein Haus soll den Namen "Liechtenstein" führen und der Ruhm deines Stammes sei licht, glänzend und erhaben wie dieser Stein!"

Als der Friede geschlossen war, kehrte der erste Liechtenstein in seine obersteirische Heimat zurück, um die bedeutenden Lehen, womit der Kaiser den Tapferen beschenkt hatte, in Besitz zu nehmen. Er erbaute bei Judenburg die Feste Liechtenstein und wurde der Ahnherr des ruhmreichen Geschlechtes, das später in den Fürstenstand erhoben wurde und bis zum heutigen Tage fortlebt.

Quelle: Von der Sann, Hans, Sagen aus der grünen Mark, Graz 1952, S. 10 ff.