DAS WUNDERKREUZ

In der Donaugegend bei Wien, nahe dem Hause "Zum weißen Lamm", trug sich einmal ein seltsames Ereignis zu.

Eines Morgens sahen die Leute, die dort am Donauufer gerade in großer Zahl beisammenstanden, aus der Tiefe des Wassers ein großes Holzkreuz auftauchen und waren nicht wenig überrascht davon.

Nach der Form wie auch nach der Farbe und der Goldverzierung konnte das seltsame Kreuz nur aus dem Morgenlande stammen.

Eine Strecke weit schwamm es stromabwärts gegen die Stadt zu, aber auf einmal blieb es auf dem Wasser ruhig liegen. Die Leute versuchten nun, das Kreuz ans Ufer zu ziehen. Sie warfen Seile aus, faßten es mit langen Stangen und zogen aus Leibeskräften an. Es war aber ganz vergebens, es rührte sich nicht von der Stelle und blieb ruhig auf dem Wasser liegen.

Der Vorfall erregte ungeheures Aufsehen, und wie ein Lauffeuer ging die Kunde davon von Mund zu Mund. Schon am nächsten Tage standen in aller Frühe Tausende und Tausende von Leuten an beiden Ufern der Donau und redeten von nichts andrem als von dem wunderbaren Kreuz.

Bald kamen auch viele Geistliche in feierlichen Prozessionen, rieten hin und her, was zu machen sei, und wollten den Leuten helfen, das Kreuz aus dem Wasser zu holen; aber alle zusammen konnten nichts erreichen.

Da kam ein frommer Klosterbruder aus dem Orden der Minoriten auf den Gedanken, mit seinem geweihten Gürtel das Kreuz aus den Fluten zu holen. Kaum hatte er es mit dem Gürtel umwunden, so ließ es sich ohne jede Anstrengung ans Ufer ziehen.

Das wunderbare Kreuz wurde sogleich nach Sankt Stephan gebracht und unter Gebet und Glockengeläute öffentlich aufgestellt.

Aber da zeigte sich sogleich ein neues Wunder. Am nächsten Tage war es aus dem Dom verschwunden, und es dauerte nicht lange, so erzählten sich die Leute, es sei an einer Wand in der Minoritenkirche gefunden worden, gerade über der Buchheimischen Kapelle.

Von diesem Platz wurde es aber hernach weggenommen und in derselben Kirche auf dem Hochaltar zur öffentlichen Verehrung ausgesetzt.

In späterer Zeit, als das Ordenshaus der Minoriten aufgehoben wurde, brachten die Ordensbrüder das Wunderkreuz nach Wimpassing, und dort wird es von den Gläubigen noch jetzt sehr verehrt.


Quelle: Die schönsten Sagen aus Wien, o. A., o. J., Seite 153