Die Schwarze Schnur

In manchen deutschen Gegenden ist die Ansicht verbreitet, daß vermögliche und einflußreiche Leute für gewisse Verbrechen gegen Geldleistung straflos ausgehen und nur durch ein verborgenes Zeichen an ihrer Person stets daran gemahnt werden, während Ärmere dafür die ganze Schwere des Gesetzes zu fühlen bekommen. Dieses Zeichen ist entweder eine schwarze oder rote Schnur oder ein eisernes Armband, und es wird in aller Form Rechtens auferlegt. So spricht man in Niederösterreich von der Schwarzen, in Norddeutschland von der Roten Schnur, hier auch vom eisernen Armband.

In der weiteren Umgebung Wiens sagt man dies hauptsächlich reichen Müllern nach, eine Erinnerung an jene Zeit, wo jeder Bauer sein Korn selbst in die Mühle brachte und dort, wie man fest glaubte, am Mahlgut ganz sicher bestohlen wurde, da der Bauer nicht zugleich beim Einschütten des Kornes und dem Ausfließen des Mehles achtgeben konnte, so daß aus dem herkömmlichen Maßl vom Metzen deren mehrere wurden. Außerdem beschuldigte man den Müller des Beimengens von Gips zum Mehl beim Verkauf nach Gewicht und außerdem anderer Vergehen, sogar geheimnisvoller Mordtaten. Ich selbst kannte vor einiger Zeit noch mehrere sehr geachtete Müller, denen man wegen ähnlicher Untaten das Tragen der Schwarzen Schnur nachsagte. Viel seltener sollte dies bei anderen vermöglichen Leuten, Bürgern und Bauern vorkommen. Zur Prüfung mußte der Scharfrichter einmal jährlich nach der Schnur sehen und sie auch jedesmal ein wenig nachziehen. Wenn der Beschuldigte starb, nahm der Scharfrichter die Schnur ab und wohnte dem Leichtenbegängnis bei, früher in seiner roten Tracht, in unserer Zeit nur mehr als gewöhnlicher Trauergast. So wurde mir wiederholt von ernsten Landleuten berichtet, und ich zweifle nicht, daß noch jetzt manche daran glauben.

Quelle: Dachler, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, 18, 1912, S. 11 f.
Aus: Will-Erich Peuckert, Ostalpensagen, Berlin 1963, Nr. 401, Seite 212