Wassermann

Ehe der Wienfluß verbaut war, stellte er für die Bewohner der umliegenden Dörfer eine große Gefahr dar. Nach Regengüssen und zur Zeit der Schneeschmelze schwoll das sonst so friedliche Flüßchen hoch an und überschwemmte ringsum das ganze Land. In alten Büchern kann man davon lesen, wie selbst Häuser weggeschwemmt wurden, ja ganze Dörfer sollen durch die reißenden Fluten vernichtet worden sein.

Die Bewohner an der Wien wußten auch zu erzählen, daß seit Jahrhunderten ein Wassermännlein in dem Fluß hause. Bei feuchtem Wetter sitzt es auf den Brettern einer Wehranlage und hat seine tiefliegenden Augen stets zu Boden gesenkt. Es ist von kleiner Gestalt, hat einen krummen Rücken und ein sehr blasses Gesicht. Bekleidet ist es mit einem grauen Rock, von dem beständig das Wasser herabtropft, einem grünen Hut und roten Stiefeln mit roten Quasten daran. Seine Haare reichen bis auf den Boden.

Durch ständiges Winken lockt das Wassermännlein Kinder und Erwachsene in seine Nähe. Doch wehe denen, die dieser freundlichen Einladung Folge leisten! Der Wassergeist ergreift sie bei der besten Gelegenheit und zieht sie auf den Grund des Flusses hinab, wo seine Wohnungen liegen. In mehreren Gemächern bewahrt er dort die Seelen der Ertrunkenen auf. Nur den Tieren tut das Männlein nichts zuleide.

Ein mutwilliger junger Mann, der gar nicht schwimmen konnte, machte sich das einmal zunutze. Er band sich mehrere Ochsenblasen um und wagte sich damit in den Bereich des Wassermännleins. Es dauerte jedoch gar nicht lange, so hörte man schon seine Hilferufe und sah ihn gleich darauf in den Wellen versinken.

Das Wassermännlein hatte die Blasen losgelöst und ihn dann in die Tiefe gezogen.

Quelle: Wien in Sage und Legende, Zens, Klemens, Wien 1955
Email-Zusendung