DER KLAGBAUM

Nahe der Grenze des alten Wiens stand auf einer Anhöhe eine Linde. Dorthin kam jeden Tag im Sommer eine Frau mit einem kleinen Mädchen. Das Kind hatte an den Blumen, die auf der Wiese standen, seine größte Freude und flocht zierliche Kränze daraus.

Als aber der Winter kam und seine rauhen Winde über das Lind schickte, da konnte das Kind nicht mehr hinausgehen zum Baum und klagte um seine geliebten Blumen. Denn sie waren alle abgestorben, und auch die Linde stand kahl da.

Eines Tages bekam das Mädchen ein schreckliches Fieber und erkannte bald seine guten Eltern nicht mehr. Die Mutter war außer sich vor Schmerz und saß Tag und Nacht am Krankenbett ihres Lieblings und weinte und betete.

Das Kind sprach auch im Fieber nur von seinen Blumen und Kränzen. Oft und oft rief es: "Mutter, Mutter, gib mir die Blumen!" Aber bald schlossen sich seine Lippen für immer.

Seit dem Tode des Mädchens hatte die Mutter keine Ruhe mehr. Bald kniete sie stundenlang an dem kleinen Grabe, in dem ihr Teuerstes lag, bald saß sie oben bei der Linde, klagte um ihr totes Kind und starrte mit tränenlosen Augen vor sich hin. Kein Trost und kein Zureden war imstande, sie aufzurichten.

Als der Frühling wiederkam und seine Blüten über die Wiese streute, da wurde der Schmerz der treuen Mutter grenzenlos. Nirgends fand sie Ruhe, bei Tag und bei Nacht verließ sie jetzt das Haus, ging hinauf zum Hügel und rief mit den zärtlichsten Worten nach ihrem Kinde.

Eines Nachts saß sie wieder oben bei dem Baume, der schon oft ihre Klagen gehört hatte. Da kam ihr Mägdlein auf sie zu, das war licht und schön wie ein Engel, lächelte in himmlischer Milde und sagte: "Mutter, weine nicht, ich habe meine Blumen wiedergefunden, sie blühen so schön auf der Himmelswiese droben; willst du mir helfen, schöne Kränze flechten? Komm doch, liebe Mutter, die Blumen warten auf uns!"

Am nächsten Morgen fand man die gute Mutter tot unter der Linde. Von da an nannten die Leute den Baum nur mehr den Klagbaum, weil die Frau dort so oft um ihr Kind geklagt hatte.

Die Klagbaumgasse in Wien soll darauf ihren Namen zurückführen.


Quelle: Die schönsten Sagen aus Wien, o. A., o. J., Seite 47