Donauweibchen

Im Stadtpark, unter den schattigen Kronen der Bäume, steht auf einem Brunnensockel ein hübsches Marmorstandbild. Es stellt ein Mädchen dar, das einige Fischlein im Schoße hält. Das ist das Donauweibchen, von dem man sich folgende Geschichte erzählt:

Donauweibchenbrunnen  © Christa Reitermayr

Donauweibchenbrunnen
© Christa Reitermayr, Frühjahr 2004

Vor vielen, vielen Jahren, als Wien noch ein kleines Städtchen war, lebten einfache Fischersleute am Ufer der wilden Donau. Sie floß damals noch nicht so friedlich in ihrem breiten Bett dahin wie heute. Ihre Wogen teilten sich in zahlreiche Arme, die sich ihren Weg durch dichte Auen und Buschwerk suchten. Kein Damm war da, der im Frühjahr die kleinen Holzhütten der Fischer vor dem gefährlichen Hochwasser geschützt hätte. Es war kein leichtes Leben, das die Fischer hier führten. Den ganzen Sommer über mußten sie fleißig an der Arbeit sein. Den größten Teil des Tages und der Nacht verbrachten sie in ihren Booten auf dem Wasser. Hatten sie einen glücklichen Fang gemacht, gingen sie in die Stadt und verkauften ihre Fische auf dem Markt. Vom Verdienst aber legten sie etwas auf die Seite, damit sie im Winter davon leben konnten.

In einem solchen Dörfchen an der Donau bei Wien lebte auch ein alter Fischer mit seinem Sohn. Dem Vater ging die schwere Arbeit nicht mehr so flink von der Hand wie dem Sohn. Aber weil sie beide fleißig und zufrieden waren, gefiel ihnen das Leben recht gut. Oder war es nicht behaglich, beim knisternden Ofen zu sitzen, während draußen ein eisiger Sturm den Schnee über die zugefrorene Donau trieb? Der Sohn hatte die kleinen Fenster fest vermacht und die geflickten Netze in eine Ecke der Stube gelegt, denn bei dem spärlichen Licht konnten sie doch nicht richtig arbeiten.

„Komm, Vater", sagte der Sohn, „setz dich hier zum warmen Ofen. Es ist Winter, da eilt die Arbeit nicht so sehr."

„Du hast recht", erwiderte der Greis, „wir wollen Feierabend machen für heute. Leg noch ein ordentliches Scheit auf, damit das Feuer anhält."

Die Funken stoben, als der Sohn ein großes Aststück in die Flammen warf.

„Nun, Vater, erzähl eine von den vielen Geschichten, die du weißt, damit uns die Zeit nicht langweilig wird."

Da erzählte der alte Fischer gar sonderbare Dinge von Wassergeistern und Nixen, die der Sohn gar nicht recht glauben wollte. Mahnend sprach der alte Fischer zu ihm: „Du bist zwar groß und stark und ein tüchtiger Fischer, aber du bist noch jung und hast nicht soviel erlebt wie ich." Du darfst nicht lachen über das, was ich dir erzähle und was dir jeder alte Fischer bestätigen kann. Manch einer ist nicht mehr unter uns, weil die Geister der Donau ihn zu sich geholt haben. Am Grunde des Donaustromes, da steht ein mächtiger Palast. Er ist ganz aus grünem Glas und gehört dem Donaufürsten, der darin mit seiner Frau und seinen Kindern lebt. Auf großen Tischen stehen umgestülpte irdene Töpfe, darinnen halten sie die Seelen der Ertrunkenen
gefangen. Der Donaufürst ist ein mächtiger Geist. Es gibt einige in unserem Dorf, die ihn in einer Mondnacht schon gesehen haben. Er hat die Gestalt eines Jägers und liebt es, am Ufer der Donau spazieren zu gehen. Wehe dem Fischer, der ihn anspricht. Er wäre unrettbar verloren, Denn mit starkem Griff packt er ihn und zieht ihn in die Tiefe des reißenden Stromes hinab.

Auch mit seinen Töchtern, den zierlichen Nixen, ist er grausam streng. Nur mit List gelingt es ihnen, dem unterirdischen Palaste zu entfliehen und sich unter die Menschen zu mengen. In windstillen Sommernächten kannst du ihren Gesang hören, mit dem sie die jungen Leute anlocken. Du kannst sie aber auch in den Tanzstuben treffen und wirst sie kaum von den übrigen Mädchen unterscheiden können. Wenn aber der Hahn zum ersten Mal kräht, sind sie verschwunden und kehren schleunigst in ihren Palast zurück. Wenn sie sich
nur ein wenig verspäten, erhalten sie grausame Schläge von ihrem Vater. Es mag wohl auch geschehen, daß er sie auf der Stelle totschlägt. Dann ist am nächsten Tag das Wasser der Donau blutig rot. Während der Vater erzählte, schüttelte der Sohn immer wieder ungläubig den Kopf. „Sei mir nicht böse, Vater", sagte er endlich, „deine Geschichten sind zwar recht kurzweilig und ich höre sie immer wieder gerne, aber glauben kann ich all das nicht, was du erzählst. Ich habe schon viele Nächte auf der Donau zugebracht, aber noch
nie den Donaufürsten oder eine seiner Töchter gesehen."

Da wurde es mit einem Schlage hell in der Stube, und im Türrahmen stand eine schlanke Mädchengestalt von überirdischer Schönheit. Um ihren zierlichen Körper floß ein langes, weißschimmerndes Kleid, ihr schwarzes Haar zierten weiße Wasserlilien. Erschrocken waren Vater und Sohn von ihren Sitzen aufgesprungen. Unverwandt starrten sie in das gütige Gesicht der Erscheinung. „Fürchtet euch nicht vor mir", sagte sie, ich tue euch nichts zuleide. Ich komme nur, um euch zu warnen, denn bald wird Tauwetter kommen und das Eis krachend in Stücke gehen. Das Hochwasser wird die Auen und Dörfer überfluten und eure Häuser bedrohen. Fliehet daher weit ins Land hinein, sonst seid ihr alle verloren! Kaum hatte sie dies gesprochen, war die holde Gestalt auch schon verschwunden. Die beiden Fischer aber überlegten keinen Augenblick, sondern liefen trotz des eisigen Sturmes zu den einzelnen Hütten und verständigten die Leute. „Das war das Donauweibchen", sagte ein alter Fischer, „immer, wenn unseren Hütten Gefahr droht, kommt es und warnt uns. Packt schnell das Nötigste und laßt uns fliehen!"

So kam es, daß die Fischerhütten alle leer standen, als nach wenigen Tagen wirklich Tauwetter einsetzte und die riesigen Wassermassen über die Ufer traten und alles ringsum überschwemmten. Nach einigen Wochen ging das Wasser wieder zurück, und die Fischer kehrten an ihre alten Wohnplätze zurück.

Rüstig bauten sie ihre Hütten wieder auf, und die Freude über die Errettung des Dorfes vor dem sicheren Tod war groß. Nur der junge Fischer konnte sich nicht recht mitfreuen. Seit er das Donauweibchen gesehen hatte, war er vor lauter Sehnsucht nach dem schönen Geschöpf der Donau ganz außer sich. Er konnte nicht mehr lachen und scherzen, wie die anderen Burschen des Dorfes, sondern ruderte traurigen Herzens weit mit seinem Kahn in die offene Donau hinaus. Sein Vater wußte, was das zu bedeuten hatte, und er sprach oft mit
seinem Sohn, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Aber alles war umsonst, er konnte den Sinn seines Sohnes nicht mehr ändern.

Eines Tages kam der junge Fischer von seiner Fahrt nicht mehr zurück. Nur sein leerer Kahn wurde von den Wellen an das Ufer getragen. Da wußte der Greis, daß das Donauweibchen seinen Sohn zu sich geholt hatte, und er weinte bitterlich.

Das Donauweibchen aber hat seit diesem Tage niemand mehr gesehen.

Quelle: Wien in Sage und Legende, Zens, Klemens, Wien 1955
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