Die Sage vom Jungferngässchen und dem Wiener Don Juan

In dem Hause am Peter, Ecke des Jungferngässchens (heute Nr. 6, früher 613) wohnte zu Anfang des 14. Jahrhunderts ein hübsches Mädchen, Namens Frowiza; ein leichfertiges Dirnlein, deren lockerer Lebenswandel den ehrsamen Vätern der glorreichen Stadt genug Ärgernis gab, da ihre Söhne von der verschwendungssüchtigen Schönen tüchtig gerupft wurden und die Orgien oft selbst mit Gesundheit und Leben gebüßt werden mussten. Gegenüber im Hause (heute Nr. 7, früher 571) wohnte der Stadtrat Stephan Knogler, Vater eines einzigen Sohnes, den er auf das strengste hielt und keinerlei Freiheit gestattete, eine so verfehlte Erziehungsmethode, dass sie zu allen Zeiten noch Unheil gestiftet hat. Auch unser Junker spielte stets den Ehrbaren; des Nachts aber, wenn alles im Hause schlief, kletterte er aus dem Fenster über die Schwibbogen, welche schon damals diese beiden Häuser verbanden, um den Gastmälern bei der leichtsinnigen Frowiza beiwohnen zu können. Lange hatte er es so getrieben, da, als der Vater plötzlich in einer Nacht aufstand und an das Fenster trat, erblickte er im Mondenschein den eben auf der Heimkehr begriffenen Sohn, welcher halb betrunken über die schmale Verbindungsbahn kletterte. Unglücklicherweise konnte er sich nicht mäßigen und rief dem jungen Manne eine Drohung entgegen, über welche derselbe erschrak und den Haltpunkt verlierend, in die Gasse stürzend das Genick brach.

Der trostlose Vater ließ dem lustigen Dirnlein den Prozess machen. Es wurden nämlich Personen des weiblichen Geschlechts, welche sich gegen die Zucht vergangen hatten, verurteilt, öffentliche Kirchenbuße zu tun. Sie mussten, in ärmliche Kleider gehüllt, mit bloßen Füßen und einem Strohkranz in der Hand oder auf dem Kopfe vor den Kirchentüren stehen und durch den Spott der Vorübergehenden ihre Sünden abbüßen. Ein solches Mädchen fand auch selten mehr einen Mann, der sie zum Traualtar führte, daher das Volk den Strohkranz in den Händen der Dirne mit einem Abreibwische verglich und meistens höhnisch die Unglückliche aufforderte, doch das Gotteshaus oder dessen Turm tüchtig abzuputzen — der Ursprung des Sprichwortes: „die Jungfer muss den Stephansturm reiben," welches die Wiener, lieber die komische Seite der Tatsache auffassend, insbesondere im Fasching als Anspielung auf unverheiratet gebliebene Mädchen anwendeten.

Das Gässchen, in welchem die leichtsinnige Frowiza gehaust, früher „Hinter Sankt Peters Freithof" genannt, erhielt den Namen „das leichtsinnige Jungfrauengässchen," später schlechtweg „Jungferngassel" und die Schwibbogen nannte man die „Junkerbrücken," eine Bezeichnung, die solchen Gebäudeanhängseln bis heute geblieben ist.

Andere Versionen über die Benennung des Gässchens sind folgende:

Eine der in den grauen Jahrhunderten der Vorzeit lebenden Jungfrauen, deren trauriges Geschick schon eine größere Anzahl von Jahren angedauert hatte, als recht und billig war, wohnte in dem vorerwähnten Hause und, niedergedrückt von dem alljährlich wiederkehrenden Spotte ihrer glücklicheren Freundinnen, überkam sie das Gefühl der höchsten Trostlosigkeit. Als sie eines Tages, von ihrem Fenster aus den Totengräber auf dem gerade vor dem Hause liegenden Sankt Peters Freithofe an seiner Arbeit gewahrte, ging sie eilends hinab und gab, lebensmüde, ihm den Auftrag, ihr ein schönes Grab zu bereiten. Der Totengräber machte sich an die Arbeit. Aber noch denselben Tag lernte das verzweifelnde Mädchen einen jungen hübschen Mann kennen, — vielleicht von dem Zuge sanfter Melancholie gerührt, welcher sich auf ihrem sonst auch nicht hässlichen Antlitze malte — sie allsogleich zur Ehe begehrte. Als die nunmehrige Braut am nächsten Tag zur Kirche ging, um Gott für den gesegneten Fund zu danken, ersah sie den Totengräber, welcher eifrig an dem für sie bestimmten Grabe arbeitete. Ihm ein namhaftes Geldgeschenk reichend, lispelte sie errötend: „Werft ja nur die Grube wieder zu, denn ich gehe bald nicht mehr als Jungfrau durch das Gässchen." Die merkwürdige Begebenheit verbreitete sich mit Blitzesschnelle in der Stadt, und nach jedem Faschingstage strömten die sitzengebliebenen Mädchen zu dem Totengräber, um sich ihr Grab anfertigen zu lassen, in der Hoffnung, dadurch ebenfalls das ersehnte Brautkleid zu erringen. Ob und wie vielen es gleichfalls gelang, davon erzählt die Tradition nichts, wohl aber meint sie, dass der Totengräber in Folge der häufigen Wanderungen der trauernden Jungfrauen, erfreut über das gesicherte Karneval-Einkommen, dem Gässchen den Namen „Jungferngässchen" erteilt habe.

Eine andere Version lautet:

Das Gässchen habe seinen Namen von dem Umstande, dass es aus den Seitenfronten zweier Häuser bestehe und ohne Eingangstüre, folglich unzugänglich und verschlossen sei, wie es eine brave Jungfrau auch sein solle.

Der richtige Begriff ist indes folgender: Die Gasse hat einfach den Namen daher, dass vormals, wo die Prozessionen und öffentlichen Kirchen-Aufzüge sehr zahlreich waren, sich in diesem Gässchen die Jungfrauen und Mädchen aufstellten, welche nach uralter Sitte in festlichen weißen Kleidern daran Teil zu nehmen hatten. In der Peterskirche waren damals die vorzüglichsten Prozessionen; jene am Dreifaltigkeitsfeste zur Säule am Graben, Abends, und von der bestandenen Dreifaltigkeits-Bruderschaft nach Lainz, die am Fronleichnamstage, und die im Oktober wegen glücklich überstandener Pest, ebenfalls zur Dreifaltigkeitssäule am Graben.

Das Ende der früher erwähnten leichtsinnigen Frowiza, war das der meisten Geschöpfe dieser Art; sie wurde nach ihrem schmerzhaften Tode ohne Sang und Klang an der Mauer des Sankt Peter Freithofes eingescharrt.

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Es war in einer schönen Herbstnacht des Jahres 1356, als der edle Junker Conrad der Chirichperger (Kirchberg), aus einem der ältesten und begütertsten Rittergeschlechter Österreichs, ein braver, aber leichtsinniger und tollkühner Fant, den seine Verlobung mit einem der edelsten Fräulein nicht abhielt, verliebte Abenteuer aufzusuchen, zufällig auf den Kirchhof am St. Petersfreithofe kam und da, als er den Todtengräber beschäftigt sah, mit ihm sich in ein Gespräch einließ. Dieser machte den Junker  auf das Grab aufmerksam, welches er eben geöffnet und den Schädel des Gerippes bei Seite geworfen hatte, mit dem Bemerken, es sei der der schönen Frowiza. Als der junge Mann mit lächelndem Munde den freventlichen Wunsch äußerte, das Mädchen möge belebt sein, um mit ihr kosen zu können, warnte ihn eindringlich der Totengräber vor dem ruchlosen Spiel mit finstern Mächten, was den Junker nicht abhielt, den Schädel aufzunehmen, auf den nahe befindlichen Grabstein zu setzen und auszurufen: „Höre Dirnlein, wenn Du kannst, so komme in einer Stunde zu mir nach Hause am Peilertor, Du wirst mir beim Nachtmahle willkommen sein."

Im Nachhauseweg reute ihn doch der Frevel und er wäre in der drückendsten Stimmung geblieben, wenn nicht plötzlich seine holde Braut sich eingefunden und ihn gegen das eingebrochene Unwetter um Unterstand gebeten hätte. Er atmete freier auf und bot der Geliebten an, das Nachtmahl mit ihm zu teilen. Eben, als sie sich setzten, trat der Pfarrer von St. Peter, der väterliche Freund und Erzieher des Junkers, ein, worüber das Fräulein zornig die Miene änderte.

Im Laufe der Tafel erzählte der Junker dem Pfarrer von der freventlichen Einladung. Dieser antwortete darauf: „Nur Gottes Allmacht kann Tote erwecken; der Böse haucht ihnen wohl zeitweilig ein Scheinleben ein, welches aber durch ein Wort des Herrn in Nichts zerfällt. Wenn zum Beispiel ich mit Frowiza hier am Tische sitzen würde, so nähme ich, wie ich jetzt tue, den Becher voll Wasser hier, als Sinnbild der Reinheit, somit der allerheiligsten Jungfrau, machte das Zeichen des Segens darüber und sagte: „Bei Gottes Gnade beschwöre ich Dich, zeige das Unreine in seiner wahren Gestalt." — Hierauf schüttete er plötzlich das Wasser dem Fräulein in das Gesicht, fiel dann auf die Knie und neigte betend das Haupt.

Die Wirkung war entsetzlich. Das Mädchen stieß einen gräulichen Schrei aus, ihr Gesicht verzerrte sich und wurde allmälig zur scheußlichen Totenlarve.

„Danke es Deinem Glücke, Junker," zischte sie aus dem grässlichen Rachen, „dass der Pfarrer zu Dir gekommen, ohne ihn hättest Du heute mit mir in der Hölle zur Nacht gegessen." — Dann verschwand sie in einer grünlichen Flamme.

„Mein teurer Sohn," sagte der Pfarrherr zu dem schreckensbleichen Junker, „Danke Deiner seligen Mutter, meiner edlen Wohltäterin, welche mir kurz vorher im Traume erschien und mich bat, sogleich zu Dir zu eilen, es drohe schreckliche Gefahr; darum mein überraschender Nachtbesuch."

Der Junker war tieferschüttert, gelobte feierlich allen Leichtsinn abzulegen und hielt sein Wort, indem er mit seiner wirklichen holden Braut die musterhafteste, von zahlreichen Nachkommen gesegnete Ehe führte. Das Familienhaus der Chirichperger (Bognergasse, heute Nr. 11, früher 315) erhielt im Volksmunde von der Zeit an den Beinamen „zum Totenkopf" und trägt ihn noch bis auf den heutigen Tag.

Die Sage von diesem Wiener Don Juan ist historisch und gleichzeitig mit der spanischen, welche sich ebenfalls auf Tatsachen gründet, deren authentische Details bereits bekannt sind und von mehreren Dichtern und Musikern (am außerordentlichsten durch Mozart) auf die Bühnen gebracht worden.

Quelle: Albert A. Wenedikt (= Moriz Bermann), Geschichte der Wiener Vorstädte, Wien ca. 1880, S. 270 - 271.