Der Lindwurm auf dem Kahlenberg

Ungefähr um das 12. Jahrhundert hauste auf dem Kahlenberg ein blutgieriger Lindwurm. Keiner wagte es, die Gegend von dem scheußlichen Ungeheuer zu erlösen. Der Lindwurm lag meist schlummernd oder blinzelnd vor seiner Höhle in der Sonne. Sobald sich in seiner Nähe ein Tier oder ein Mensch bemerkbar machte, schnaufte er witternd und fuhr im nächsten Augenblick blitzschnell auf seine Beute los. Hatte er Hunger, so brach er auch in Ställe ein oder überfiel zu nächtlicher Stunde Menschen, die arglos auf dem Heimweg waren. Man war sich darüber einig, dass das Scheusal vertilgt werden müsste. Es handelte sich nur darum, wie man das anstellen sollte.

Da kam ein beherzter Wiener auf einen guten Gedanken und besprach ihn mit einigen anderen mutigen Männern. Sie nagelten aus Brettern eine lange, schmale Kiste zusammen, die vorn und hinten offen war. Vorn aber war das Loch so eng, dass der Lindwurm nur den Kopf herausstecken konnte. Als das Untier sich in der Höhle verkrochen hatte, ließen die Männer von einer kleinen Anhöhe die Kiste an starken Stricken hinunter und ketteten sie genau vor dem Höhleneingang an starken Baumstämmen fest, sodass sie sich nicht verschieben ließ. Dann banden sie beim vorderen Ende ein Kälbchen als Köder an einen Baumstumpf. Es sollte durch sein Brüllen den Drachen aus der Höhle locken.

Die Männer warteten in einem sicheren Versteck. Es dauerte nicht lange, so witterte der Lindwurm das Kalb und fuhr blutgierig darauf los. Da er aber nur durch die Kiste ins Freie gelangen konnte, musste er hineinkriechen und blieb bald vorne in der Enge stecken. Nun griffen die Männer rasch und mutig zu. Sie warfen Zweige und dürres Laub auf den Kasten, zündeten es an und bald züngelten die Flammen hoch. Das Untier schlug wild um sich, bis es endlich im Rauchqualm erstickte. Als das Feuer verglost war, zogen sie dem Drachen den Schuppenpanzer ab. Den schleppten sie als Siegeszeichen in des Dorf. Die dankbaren Dorfbewohner ließen ihn an das Haus des Winzers nageln, der den erfolgreichen Plan ausgeheckt hatte. Dort blieb das Beutestück gar manches Jahr hängen und viele Leute zogen an dem Haus vorüber, um es zu bestaunen.

Quelle: Sagen aus Wien, Herausgegeben von Emil Nack, Wien 1973 / 2002, S. 156