Der Sankallar

Von einem Sankallar, d. h. einem Manne, der das Zaubern und Bannen wohl versteht, erzählt man sich in Lustenau allerlei Teufelsbeschwörungen. Einst will er dem Klosterschneider seine Kunst zeigen, nimmt sein Sybillebüchle aus der Tasche und will einen Star auf einen Tannenwipfel bannen. Er fängt an zu lesen, und richtig - der Star, ein ganz schwarzer Vogel, wird so fest an den Baum gebannt, als wäre er angenagelt gewesen. Er schlägt mit den Flügeln und schreit und kommt doch nicht vom Fleck. Der Sankallar liest und liest in dem Büchle, bis er zu weit gelesen hat. Dadurch hat er den Zauber fast übermäßig verstärkt. Der Klosterschneider, der sich auch nicht losmachen konnte, fängt an, sich zu fürchten. Dem Sankallar gelingt es endlich, den Star noch vor Sonnenuntergang zu erlösen. Diesmal, sagte er, sind wir dem Schwarzen noch glücklich entronnen.

Ein andermal hat der Sankallar sein Büchle zu Hause liegen lassen und ist in die Kirche gegangen. Und während er da im Stuhle sitzt, hat's ihn so mächtig nach Hause gezogen, daß er auf und davon eilt. In seinem Hause nämlich hatte einer das Zauberbüchle hinter dem Spiegel gefunden und angefangen, darin zu lesen; darum ist dem Sankallar in der Kirche so seltsam zu Mute geworden, daß es ihn fortgezogen hat. Denn kaum hatte der andere ein Stück in dem Büchle gelesen, so waren schon die Geister („Göaster“) dahergekommen, und im ganzen Zimmer hat's gerumpelt, als wären ihrer tausend da. Den Leser überfiel die Furcht dermaßen, daß ihm die Haare „strupp“ geworden. Er wußte nicht mehr wo aus und an. Zur rechten Zeit ist gerade der Sankallar herbeigeeilt; der hat schnell alles wieder „hinterschi“ (rückwärts) gelesen, so weit der andere gekommen ist. Daß der Sankallar so „notligs“ (geschwind) dahergesprungen ist, dazu muß es hohe Zeit gewesen sein, denn - wie er sagte - sei ihm fast todangst gewesen, und bis man das vom Sankallar sagen kann, braucht's gewiß viel.

Quelle: Theodor Vernaleken, Alpensagen, Wien 1858, Nr. 110, zit. nach Sagen aus Vorarlberg, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 34f