Das Gaugericht zu Müsinen und die Gründung der Fridolinskapelle

Müsinen hieß eine Flur. Dort war auf flacher grünem Hügel zwischen zwei Wässern, die genannt sind Frutz und Frödisch, an des Reiches offener Straße die Thingstätte des Gaues Churrhätien. Soweit Firne zum Rheine blinken und Gletscherbäche ihm zufließen vom Septimer bis zum Bodensee, vom Arlberg bis zu Walensee, reichte deren Gebiet. Unter freiem Himmel auf steinernem Stuhl, den Stab in Händen, saß der Gaugraf und sprach Recht bei sehender Sonne und scheinendem Tag; Beisitzer waren mächtige, gebietende Männer alemannischem und rhätischem Stammes, und freie Bauern der Umstand. Uralt war das Gericht. Die Chronik weiß, daß es der Frankenkönig Chlodwig, der Taufgötte des Hl. Leonhard, eingesetzt und St. Fridolin, der Gründer des Klosters Säckingen, ist Spruch und Urteil heischend davorgestanden, als er von Glarus rheinüber aus nächtigem Grabe den toten Urso zum Zeugen holte gegen ungetreuen Landolf. Nahezu ein Jahrtausend tagte das Gericht auf dem einsamen Hügel.

Doch dann kam die wirre Wende zweier Zeiten, die alten Geschlechter erloschen, da Bünde geschlossen wurden und Burgen gebrochen. Und einstmals, als das Gericht wieder "verbannt" war nach der Urväter Sitte geschah es, daß vom Kästenholz an der Röthner Berghalde her schreckliche, vermummte Gestalten nahten, gespenstische Ungeheuer. Richter und Beisitzer erschraken. Sie riefen die Hilfe St. Fridolins an, ihn daran gemahnend, wie er allhier in alter Zeit Schutz und klares Recht gefunden, und flohen von der Stätte nach Rankweil, wo sie das Gericht an neuem Orte auf freier Flur "verbannten". Dabei gelobten sie, dem Heiligen zu Ehren auf dem Liebfrauenberge eine Kapelle zu erbauen. Es ist die Fridolinskapelle mit dem roten Stein.

So erzählt die Sage von der Verlegung des Ggerichtes. Tatsächlich tagte es seit dem Beginne 15. Jahrhunderts in Rankweil. Es führte den alten Namen, man übte und wahrte alten Brauch und altes Herkommen und noch zu unserer Urgroßväter Zeiten fällte der Richter nur mit dem Knobelspieß in der Hand Urteil.* Aber die Macht des Gerichtes schwand im mehr. Der Gau war zerrissen, die Marksteine zweier Länder erhoben sich in dessen Mitte. Endlich sank es dahin und endete während der Franzosenkriege unter bayerischer Herrschaft mit den letzten Resten der alten Zeit.

Um den Hügel zu Müsinen aber hört man noch nächtens ein Tosen und Hallen. Es sind die Geister jener, die sich dereinst dort zu Thing und Tag versammelt

*Noch in seiner letzten Zeit, als es schon längst in Rankweil führte es den Titel „freies kaiserliches Landgericht zu Müsinen". Ueber den Grund seiner Verlegung nach Rankweil meldet die alte Aufzeichnung: „Zur Zeit, da das freie Landgericht zu Münsinen unter freiem Himmel gehalten wurde, kam ein Gespenst von etlichen Figuren, welches abscheulich und fürchterlich anzusehen war, aus dem Kästenholz und eilt ungestüm auf das Landgericht zu, als wolle es alle Anwesenden zerreißen." (Kästenholz — Kastanienholz).

Ebenso die Chronik des Jos. Christian Frick (1803), Auch sie weiß von einem „Gespenst von etlichen Figuren erschröcklich anzusehen", — fügt dann aber hinzu: „Einige vermeinten, es seien vermummte leblendige Menschen gewesen".

Nach meiner Urgroßmutter Ursula Watzenegger von Weiler, Mann Andreas Watzenegger zu den letzten Beisitzern des Gerichte hörte, und die viel von diesem freien Landgerichte und dessen Gebräuchen zu erzählen wußte, war das Gespenst, welches das Gericht stört, ein Haufe vermummter Vorderländer Bauern, der über die „Herren" herfallen wollte.

St. Fridolin vor dem Rankweiler Gaugericht

Zwei Brüder namens Urso und Landolf, die durch Adel und Reichtum unter den Alemannen hervorragten, hatten großen Besitz im Tale Glarus. Nun schenkte Urso den ihm zugehörigen Teil im Einverständnis mit seinem Bruder dem vom hl. Fridolin gegründeten Kloster zu Säckingen und bekräftigte diese Schenkung mit Brief und Siegel. Nicht lange darnach starb er. Aber Landolf kümmerte sich nicht um das fromme Vermächtnis und riß alle Güter an sich. Da Fridolin in Güte nichts gegen ihn ausrichtete, sah er sich genötigt, beim Gerichte Hilfe gegen ihn zu suchen. Er brachte die Klage beim zuständigen Gaugericht in Rankweil an. Aber auch hier konnte er nicht zu seinem Recht kommen. Der damalige Landgraf oder Freilandrichter Baldebrecht (Baldebert) bedeutete ihm höhnisch, er solle den Geschenkgeber selbst zur Zeugenschaft dem Gerichte vorführen. Fridolin verließ die Gerichtsstätte und begab sich auf die waldige Hohe, die sich gegenüber dem Frauenberg erhebt, Hochgastern (Gastra) genannt. Dort kniete er auf einem Stein nieder und empfahl im Gebet Gott sein Anliegen. Da war es ihm auf einmal, als hörte er eine überirdische Stimme, die ihm zurief: „Zieh gen Glarus und rufe den toten Ursus, auf daß er Zeuge gegen Landolf!" Im selben Augenblick wurde der Stein, auf dem er kniete, weich, wie wachs, so daß seine Arme und Knie tief einsanken; erst als er sich erhoben, verhärteten sich allmählich wieder die wunderbaren Eindrücke. - Ermutigt durch die himmlische Weisung, verfügte sich Fridolin nach Glarus zum Grabe des Urso, ließ es öffnen und rief den Toten in der Kraft Gottes aus dem Grabe heraus. Den also Erweckten nahm er bei der Hand und führte ihn nach Rankweil zum Gericht. Hier sprach Urso zu seinem Bruder: „Bruder, warum hast du meine Seele beraubt, indem du das Gut an dich gerissen, das mir gehörte?" Der entsetzte Landolf ging in sich und stellte nicht nur den geraubten Anteil zurück, sondern übergab auch zur Sühne seinen eigenen Besitz dem Kloster Säckingen. Darauf begleitete der Heilige den Toten wieder zu seinem Grabe zurück.


Quelle: Anna Hensler, in: Rund um Vorarlberger Gotteshäuser, Heimatbilder aus Geschichte, Legende, Kunst und Brauchtum, Bregenz 1936, S. 16f