585. Das ungerechte Testament

Vor wenig Jahren ist ein wohlhabender Mann gestorben. Er hatte reiche und arme Erben. Weil er aber von allem großen Unglück stets verschont geblieben war und auch ein Weib besaß, das ihm mit Hausen treulich beigestanden, hatte er kein Mitleid für die Armen und sagte erbarmungslos, es kämen eben die an den Bettelstab, die es nicht anders verdienten; jeder rote HeIler sei bei ihnen verloren. Und er vermachte sein ganzes Geld seinen reichen Verwandten; die armen aber, welche Not litten, soIlten weiter darben. Ja sogar seiner Frau, die alt und gebrechlich war, ließ er nur ganz wenig, so daß sie Tagen voll Not und Elend entgegensah, obwohl sie immer miteinander gearbeitet und gespart hatten und bei der Hochzeit beide kein Vermögen harten. Aber sie hatten immer Glück und ihre Ehe war kinderlos geblieben, so hatten sie wenig Auslagen und konnten deshalb ein schönes Vermögen zusammenbringen.

Der Vorsteher kam zu dem Mann und redete ihm zu, das ungerechte Testament zu ändern. Seine Frau bat ihn, aber alles umsonst. Auch der Pfarrer suchte ihn ein paarmal auf und hielt ihm vor, so könne er nicht glückselig sterben.

Kurze Zeit darauf starb er. Es waren drei Tage seit seinem Tode vergangen, als in der Nacht seine Frau erwachte, weil er an ihr Bett trat. Er sah sehr leidend aus und sein Mund war so vertrocknet, daß er die zwei Worte: „Bitte schenken!" nur hart sagen konnte. Am Morgen ging die Frau eilig zum Pfarrer, erzählte es ihm und schenkte dem Toten die Schuld. Sie ging auch zu den armen Verwandten und bat sie, dasselbe zu tun. Diese taten es aber nicht, sondern sagten, sie überließen es ihm, er habe es ihnen auch überlassen.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 585, S. 306f