547. Die Fenggin Madrisa

Drüben auf den Saaser Alpen am Fuß des Madrisahornes hatte ein reicher Bauer eine Alp und schickte seinen Sohn hinauf, um dort im Winter mit den Kühen zu bleiben, solange der Heuvorrat reichte, wie das noch jetzt vielfach geschieht. Der junge Mann ließ nichts von sich hören, so daß der Vater fürchtete, es möge ihm etwas Schlimmes begegnet sein, und sich bei tiefem Schnee aufmachte, um nachzusehen. Er fand den Sohn mit der Sennerei beschäftigt und staunte über den reichen Vorrat an Milch, Butter und Käs, und über das stattliche Aussehen des Viehes. „Wie kommt es", fragte er, „daß die Kühe so glatt und schön sind und Milch geben wie im hohen Sommer?" — „Das macht meine Madrisa", sagte der Jüngling, „die hat Wurzeln und Kräuter gesucht, davon wird das Vieh so glatt und gibt so viel Milch." — „Wer ist das, deine Madrisa?" Der Bursch deutete in die halbgeöffnete Tür der Kammer; da lag auf dem Bette schlafend ein Mädchen von wunderbarer Schönheit, dessen helle Haare bis zur Erde herabfielen. Ein Ruf des Erstaunens entfloh dem Vater. Das Mädchen, das eine Fenggin war, erwachte, erhob sich und schritt auf die beiden zu: „Hättet ihr mich unbekannt und in Frieden gelassen, es wäre besser gewesen für euch und eure Herde. Ungern kehre ich aus der warmen Hütte zurück zu Wald und Fels, aber ich muß." Leichtfüßig schritt sie über den Schnee den Felsenhörnern zu, die ihren Namen tragen.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 547, S. 292