63. Das kluge Hirtenbüblein

Ein schwäbischer Bauer, welcher einen Hirten brauchte, fuhr auf den Markt von Ravensburg, wohin alljährlich im Frühling Kinder armer Leute aus den Tälern Tirols und Vorarlbergs gebracht werden, um sich im Schwabenlande den Sommer über als Hirten zu verdingen. Er fragte so ein Büblein, das ihm besonders gut gefiel, was er verlange bis zum Herbst für's Hüten. Das Bregenzerwälder Büblein antwortete: „Jo, zehe Gulde und a Paar Schueh." Dem Bauer war's recht und er nahm den Hirten auf seinem Fuhrwerk mit nach Hause. Dieser hütete nun das Vieh seines Dienstgebers und half auch sonst bei der Arbeit fleißig mit. Als der Herbst heranrückte, wollte das Büblein aber nicht nach Hause zurückkehren, denn seine Mutter sei sehr arm und könne es nicht erhalten. „Mir ist's recht, wenn Du auch den Winter über bei mir bleibst", sagte der Bauer, „ich gebe Dir dafür ein neues Gewand; aber in die Schule wirst im Winter auch gehen müssen." Von der Schule wollte jedoch der Bub nichts wissen, er arbeite lieber den ganzen Tag. „Wenn's ohne die Schul' geht, ist's mir auch recht", meinte der Bauer.

Bald aber kam der Lehrer des Ortes zum Bauer und verlangte, daß der Bub die Schule besuche, „l gang nit i d' Schuel', was Ihr wissed, woaß i ou", sagte dieser zum Lehrer. Nun fragte ihn der Lehrer über alles aus, was in der Schule den Kindern gelehrt wird, und der Bub blieb zum größten Erstaunen des Schulmeisters keine Antwort schuldig. Als dies der Herr Pfarrer erfuhr, ließ er das gescheite Büblein zu sich kommen und riet ihm dringend, er solle studieren, die Kosten werde er schon selbst für ihn bestreiten. Der Bub aber sagte, er wolle lieber arbeiten als studieren. Im weiteren Verlaufe der Unterredung fragte ihn der Pfarrer, wie viele Schafe er zu hüten habe. Der Hirtenbub antwortete: „Noch amol so viel als d' Hälfte so viel als der dritte Teil und eins, dann sind's hundert." Der Pfarrer brachte sogleich nicht heraus, wie viele Schafe er damit meinte, und da sagte der Bub: „Seahed er? so viel ihr wissed, woaß i ou; i bruch nit studire."

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 63, S. 56f