17. Die Frau in Weiß und Schwarz

Ein Junggeselle vom Tannenbach ging täglich in aller Frühe zu den Kapuzinern in die hl. Messe. Einmal erwachte er in der Nacht und da er der Meinung war, es sei schon Morgen, zog er sich rasch an und ging, ohne auf die Uhr zu schauen, der Klosterkirche zu. Als er zur Stiege kam, die zum Kloster hinaufführt, sah er auf der zweiten Stufe eine weißgekleidete, wunderschöne Frau sitzen. Der Junggeselle lief an der schönen Frau vorbei die Stiege hinauf und nahm immer drei Staffel auf einmal. Er wollte in die Kirche - sie war verschlossen. "Am End ist es noch zu früh" dachte er und setzte sich auf das Bänkle, das sich damals noch vor der Pforte des Kapuzinerklosters befand. Da schlugs vom Turm die zweite Morgenstunde. Nun wußte der Mann freilich, woran er war; heimzugehen traute er sich aber nicht, da er fürchtete, die Frau könnte noch auf der Stiege sitzen. Das hatte er schon gemerkt, daß es nichts Rechtes mit ihr war. Wie er so dasaß fing er an einzunohren, obwohl ihm selbst unheimlich zumute war. Um vier Uhr, als die Glocke das Ave-Maria läutete, erwachte er. Jetzt machte der Meßner die Kirchentür auf, der Junggeselle trat in die Kirche und setzte sich in einen Stuhl, mußte aber immer an das schöne, weißgekleidete Mädchen denken: "Wenn sie nur nicht am End noch zu mir in die Kirche kommt." - Jetzt hörte er Tritte sich der Kirche nähern. - "Gott sei Dank, das muß ein Mensch sein", dachte er sich, "jetzt bin ich doch nicht mehr ganz allein da." Er schaute um, da kam ein ungeheuer großes, in schwarze Gewänder gehülltes Weibsbild zur Türe herein, begab sich ungesäumt in den Stuhl, in welchem der Junggeselle kniete, und drängte ihn auf der ändern Seite hinaus, wo er vor Schreck und Grauen ohnmächtig zu Boden stürzte. Ein Pater kam herbei und brachte den Mann wieder zu sich. Als der Junggeselle erzählt hatte, was er diesen Morgen alles erlebt hatte, sagte der Pater, daß die schöne Erscheinung auf der Stiege und die große schwarze Frau ein und dieselbe arme Seele sei. Mit einem so verführerischen Äußern nämlich wäre sie als büßende arme Seele nicht würdig gewesen, die Kirche zu betreten; sie mußte sich "verstellen". Hätte er zu der einen oder andern Erscheinung nur ein Wort gesprochen, hätte die arme Seele, die nach Erlösung schmachtet, eingehen können in das Reich Gottes.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 17, S. 39f