399. Das Dellermännle

Das Dellermännle haust im Derratal, und zwar im Gebiet der Derrenalpe, auch Dellera genannt. Noch lebende Leute sind des festen Glaubens, es gesehen zu haben. Es wird als altes Männchen beschrieben, das sich in blauem Leinengewand mit einem Sack und einer Haue über der Schulter zeige und geisten müsse, weil es in den Alpen bei Lebzeiten Enzianwurzeln gestohlen habe.

Einmal gingen zwei junge Burschen mit den Knechten ihres elterlichen Hauses zur Arbeit in eines der Mähder dieser Alpe. Im Obermut riefen sie dem Dellermännle, es solle sich zeigen, wenn es wirklich da sei, und sofort erschien es in seinem bekannten Aufzuge auf der ändern Bergseite, rasch den Hang in schiefer Richtung hinlaufend. Die Anwesenden sahen es alle ganz deutlich und riefen ihm, es solle kommen; aber es sah sich nicht um, lief noch eine Strecke weit und verschwand dann spurlos auf einem Platze, der offen und frei dalag.

Ein zweites Mal trug einer dieser Burschen einen Käsekessel aus einer Alpe. Als er auf der Höhe des Wannenberges ankam, dort den Kessel eine kurze Zeit abnahm, um etwas auszurasten, und in das Derratal hinübersah, dachte er bei sich: „Wenn es wirklich ein Dellermännle gibt, so soll es sich dort auf der Alpe zeigen, dann will ich es glauben und ihm ein Vaterunser beten." Kaum gedacht, so sah er es mit Sack und Haue im gewöhnlichen Anzüge in jener Hochalpe einherlaufen; nach einer kurzen Strecke verschwand es hinter einem Hügel.

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Als vor wenigen Jahren Heuersleute im Mahd Grindlesberg der Derrenalpe waren, wurde eines der Mädchen vom Dellermännle geplagt. Er riß sie nachts an den Haaren, warf ihr beim Kochen Schmutz in die Pfanne, redete mit ihr und ärgerte sie dermaßen, daß sie schließlich heimging, um Ruhe zu bekommen. Sie sah das Männle; für alle ihre Genossen war es dagegen unsichtbar und unhörbar, weshalb sie anfänglich keinen Glauben fand.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 399, S. 225f