Die Waldfrauen

In einer Berghöle ob Schluderns wohnten einst drei Fräulein, die waren ganz wild und von dem Umgange mit Menschen durch einen großen Wald abgeschlossen. Ihre Nahrung bestand theils aus Kräutern, die sie im Walde suchten, theils aus Menschen, welche sie anpackten. Wenn es sich nämlich ereignete, daß sie einen Menschen erblickten, so fielen sie über ihn her und schleppten ihn mit sich in ihre Höle. Hier wurde er angebunden und zur Arbeit gezwungen. War er fleißig, so fütterten sie ihn, bis er recht fett war, zeigte er sich faul und ungeschickt, so wurde ihm gleich auf einem Baumstumpf der Kopf abgehauen. Daher wich ihnen jedermann fleißig aus, und niemand wagte es, an ihrer Höhle vorbeizugehen. Nur ein Bauer hatte einmal den Muth dazu und kam wirklich ungeschoren davon. Die Sache gieng aber so.
Als er an der Höhle vorbei kam, giengen die Fräulein zwar auf ihn los, schleppten ihn aber nicht in die Höhle, sondern gaben ihm bloß einen Gürtel. Diesen sagten sie, solle er nehmen und damit seinen Leib umgürten. Der Bauer war ein listiger Kerl, that, als ob alles recht wäre, und gieng mit dem Gürtel weiter. Nachdem er ein Stück gegangen war, versuchte er die Beschaffenheit des Gürtels, aber nicht an sich, sondern an einem Baume. Kaum hatte er den Gürtel an den Baum geschlungen, so brech dieser ab und der Bauer freute sich über seine Klugheit. Er gieng nun seinen Weg weiter, und als er heim kam, fand er die Magd schwer krank. Sie aß nichts und trank nichts, und lag da wie gestorben. Aber auf einmal sprang sie auf und lief unaufhaltsam dem Walde zu. Der Bauer rannte ihr nach und sie lief geraden Weges zur Höhle der wilden Fräulein. Denn sie selbst war auch eins von ihnen, und sobald sie ihre Schwestern, die vor der Höhle warteten, erreicht hatte, verschwanden alle drei von der Stelle und wurden von da an nie mehr gesehen. (Schluderns.)



Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 74, Seite 50.