VON DER BLAUEN WAND
Eine Strecke von dem "Arger Gatterl", wo der schmale Fußpfad von Alpbach übers Höfel nach Thierbach führt, erhebt sich ganz senkrecht eine mächtige Felsenwand. Sie hat eine blaugraue Farbe und wird deshalb zuweilen die "blaue Wand" genannt. Vor derselben ist ein Gestrüppe aus Haselgebüsch und in demselben hütete einstens ein Mädchen aus dem "Dorf" die Geiße.
Paul Flora, Tiroler Paar
aus "Die verwurzelten Tiroler und ihre bösen Feinde"
© EDITION GALERIE THOMAS FLORA
Es war ein sonniger Frühlingstag, die Geiße suchten mit großem
Behagen im Gestäude ihr Futter und das Mädchen gieng sinnend
an der "blauen Wand" hin. Plötzlich bemerkte es in derselben
ein hohes gewölbtes Thor; das war halb offen, und heraus kam ein
blendender Glanz von reichen Schätzen; es liefen nämlich d'rin
an den Seitenwänden hölzerne Stellen herum, eine über der
anderen, und darauf lagen Goldlaibe, so groß wie Brotlaibe, und
von dem Gewölbe herunter hingen gleißende Goldzapfen, die an
Gestalt und Größe den Zirbelzapfen ähnlich waren. Bei
diesen Schätzen sah das erschrockene Mädchen ein eisgraues Männlein
sitzen und das brummte mit halblauter Stimme: "Möchst gern einher?
Möchst gern einher?" - Das Mädchen fieng an sich zu fürchten
und lief schnell dem Vater zu sagen, was es Wunderbares gesehen. Der Alte
eilte sogleich hinauf zur blauen Wand, aber das hohe gewölbte Tor
war spurlos verschwunden. Das Mädchen hat von dort an noch gar oft
in jener Gegend die Ziegen gehütet und ist auch vielmal zu jener
Stelle gegangen, hat jedoch nie mehr etwas bemerkt.
Ein anderes Mädchen sah einmal in jener Gegend eine große, goldgelbe Blume. Es gieng vorüber, ohne sie zu pflücken, aber bald kam ihm die Reue und es lief zurück, um die wunderschöne Blume zu holen. Obschon es das Plätzchen genau wußte, war doch die Blume nicht mehr zu finden. (Alpbach.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben
von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 610, Seite 347