Wilde Fahrt in Vintsgau

1.

Von dieser weiß man im Dorfe viel zu erzählen. Sie fährt meistens der Straße nach, doch manchmal auch durch andere Gassen. Voran kommt Musik, hierauf rasselt's und klappert's, manchmal wie Gänsegeschnatter. Man muß ihr auf der rechten Seite ausstellen, denn wenn man links steht, wird man mitgerissen. Auch darf man nicht durch ein Fenster schauen, wenn die Fahrt kommt, sonst muß man auch mitfahren oder es wird irgend ein Stück Vieh entführt. In  Burgeis   sah einmal ein Weib durch's Fenster, als die Fahrt vorbei zog. Da rief es hinauf: "Wärest du nicht hinter'm Kreuzbalken, solltest du's büßen." (Mals.)

2.

In alten abgelegenen Dörfern Vintschgaus findet man häufig an jedem Eingang in dieselben, besonders aber auf den Vierwegen, Crucifixe und Bildstöcklein, wie auch an den meisten Häusern Kreuzfenster oder Kreuzbalken. Ihr Vorhandensein schreibt sich daher, daß man dadurch die an gewissen Nächten herumziehenden Geister und mit dem Bösen verbundenen Seelen ferne halten wollte. Denn es war nicht selten der Fall, daß plötzlich in der Nacht ein unheimlicher Zug durch die Gassen brauste und die Leute, die aus den Fenstern ihm nach- blickten, krüppelhaft oder wenigstens krank wurden. Folgendes erzählt man sich im Vintschgau von einer solchen Hexenfahrt, die im Volksmunde als die  w i l d e  bekannt ist.

In der  Martinsnacht  rauschte es plötzlich den Waldweg her, als bringe der Sturm Bäume und Felsen mit sich, und bald durchzog das kleine Dörflein ein schwarzer Haufe, dessen einzelne Gestalten, die man unterschied, gar wunderbar aussahen. An der Spitze des höllischen Wirrwarrs kehrte ein stumpfer Besen von selbst den Weg und hinter ihm her trappten  z w e i l e e r e S c h u h e,  die denjenigen, welcher sie anzieht, über Berg und Thal tragen würden, und endlich zuletzt wackelte mühevoll eine krumme  G a n s  nach. Ein Weib, das zufällig am Wege stand und unglücklicherweise vergessen hatte, in das rechte Geleise zu treten oder ein Kreuz vor die Augen zu halten, wodurch allen bösen Geistern die Macht genommen wird, gerieth über solchen Aufzug in's Lachen. Schnell pickte die Gans, einige Schritte seitwärts hüpfend, an einer Zaunspalte, und gewaltige Schmerzen fuhren dem Weibe in den Fuß.

Alle angewandten Verbande und Hausmittel waren vergebens, man konnte nun einmal dem Übel nicht abhelfen. Es blieb daher nichts mehr übrig, als die  nächste Martinsnacht  zu erwarten, worauf sich die einzige Hoffnung gründete, denn es zogen die Geister und Hexen jedes Jahr um dieselbe Zeit herum, ihre Zaubereien zu besichtigen, manche zu lösen und andere wieder zu binden. Und wirklich zog in der Jahresnacht jenes Unfalles die wilde Fahrt wieder in das Dörflein, an der verhängnisvollen Spelte vorbei, wo die Gans stehen blieb . "Hier habe ich voriges Jahr ein Hackl geschlagen, ich will es wieder ausziehen," sprach sie, auf die nämliche Stelle hinpickend, und dem Weibe, das von dem Fenster herab zuschaute, kam es vor, als hätte die Gans von ihrem Fuße den Schmerz weggepickt. "Dafür sollst du mir aber selbst, und zukünftig immer Jemand in deiner Familie krumm sein," rief sie noch zum Fenster hinauf, und flügelschlagend hinkte sie dann ihrem Zuge nach.

Diese Sage ist in so lebendiger Erinnerung, daß alte Weiber wirklich nachweisen wollen, die letzten Worte der Gans seien bisher harklein in Erfüllung gegangen. Diesem Unwesen der Geister und Hexen hatte man zwar bald in den Dörfern durch die Macht und Wirkung der Kruzifixe und Kreuzbalken ein Ziel gesetzt, aber noch spukte es auf den Feldern in ähnlicher, jedoch gefahrloserer Weise. Denn es ereignete sich häufig, daß Leute, die abends nach dem Gebetläuten auf dem Felde oder dem Wege zwischen den Dörfern sich befanden, von Sinnen gebracht und irre geführt wurden.

So erzählt man sich in demselben Dorfe, was einem Bauern, der noch im guten Andenken ist, unterwegs begegnete. Er gieng in ganz nüchternem Zustande und ohne an solche Dinge zu denken von einer fremden Ortschaft nach Hause und hatte bereits die Hälfte des Weges vollendet, als ihm bei dem Orte, wo man öfters weiße Fräulein gesehen zu haben behauptete, ein  F u h r m a n n m i t R o ß u n d W a g e n  begegnete. Sich wundernd über diese Erscheinung, daß im Winter und spät in der Nacht Jemand fahre, trat er ihm näher mit den Worten: "Jetzt weiß ich nicht, hast du oder hab ich den rechten Weg eingeschlagen." Ohne Erwiderung knallte der Fuhrmann mit seiner Peitsche und der gute Bauer, wie durch einen Zauber von ungeheuren Schneemassen und Felsen umgeben, sah sich genöthigt, mit Angst darüber hinwegzusteigen und war endlich ganz in die Nähe des Dorfes gekommen, wo noch in allen Stuben die Lichter brannten. Aber plötzlich waren sie wieder ferne gerückt und das Klettern und Abmühen wiederholte sich, und so trieb es ihn links und rechts, vor seinen Ohren pfeifend, ohne daß er etwas erblicken konnte, die ganze Nacht herum, bis endlich der Klang der ersten Morgenglocke dem Jagen ein Ende machte und dem Ermüdeten die Besinnung wieder gab, der sich wohl eine halbe Stunde weit von seinem Ort neben der Etsch befand. Dagegen lernte man sich durch Erhöhung der Feldkreuze verwahren, und hatte bald die Umgebung von derlei Fahrten und Verführungen durch diese Bannmittel befreit und gereinigt. (Bei Glurns.)


3.

In später Nacht pfeift die wilde Fahrt über's Thal und nimmt alle Leute mit, die ihr in den Weg kommen. Sogar Neugierige, die hinter Fenstern ohne Kreuzbalken stehen, werden mitgezaubert. Voraus fährt ein zweirädriger Wagen, der von zwei Teufeln gezogen wird. In ihm sitzt ein meeraltes Weiblein. Die Fahrt geht noch schneller, als der Wind, über Berg und Thal. Leute, die mitgenommen werden, befinden sich morgens im Unterinnthal, besonders bei Hall. Seit vielen Jahren sieht man die Fahrt nimmer, weil sie der Papst auf fünfzig Jahre gebannt hat. Nach Ablauf dieser Zeit wird aber diese Hexerei wieder von Neuem losgehen. (Stilfs.)


Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 14, Seite 7.