Unser Herr im Elend

Um das Jahr 1210 lebte auf dem Schlosse Aufenstein am Eingange in das Navisthal Ritter Heinrich. Er war wohlthätig, tapfer und frommen Sinnes. Seine innige Andacht und seine heiße Liebe zum Erlöser führte ihn in das gelobte Land. Er besuchte Bethlehem, den Ölberg, den Berg Golgatha und die Kirche zum heiligen Grab, Hier sah er ein uraltes, hölzernes Bild des Heilandes, den frommen Pilgerscharen, die sich dort einfanden, unter der Benennung Unser Herr im Elend ehrwürdig. Gerührt von diesem Bildnisse ließ sich der Ritter von Aufenstein eine getreue Copie desselben verfertigen und noch im Jahre 1210 brachte er sie auf sein Schloß. Bald wurde die ehrwürdige Statue in der Pfarrkirche von Matrei aufgestellt, und viel Volk fand sich dort andächtig ein.

Die Pfarrkirche von Matrei, Innenansicht © Berit Mrugalska
Blick zum Hochaltar mit der Skulptur "Unser Herr im Elend" (A. 14. Jh.)
© Berit Mrugalska, 11. März 2005

Zu jener Zeit saß auf der Veste Raspenbühel ein Ritter von wilden Sitten. Seinen Namen verschweigt die Geschichte. Als ein Feind alles Religiösen haßte er ganz besonders die Andacht zum Erlöser vor jenem Bildnisse. Sein Haß gieng so weit, daß er den Meßner (Küster) durch Kunstgriffe und Bedrohungen dahin brachte, das Bild zur Nachtzeit in den nahen Sillfluß zu werfen. Allein welch' ein Wunder! am Morgen stand es wieder auf seinem vorigen Platze. Dieser Entfernungsversuch wurde umsonst wiederholt, das dritte Mal in Gegenwart des Ritters selbst, der sogar die Kirchenschlüssel über Nacht bei sich verwahrt hatte. Den rauhen Mann erschreckte zwar jene Erscheinung, sie besserte ihn aber nicht. Nun kam des Ritters Gemahlin, eine fromme, edle Frau, in Kindesnöthen. Ihr Zustand wurde bedenklich, und Mutter und Kind schwebten in der größten Gefahr. Dies endlich erschütterte sein wildes Gemüth. Die strafende Hand desjenigen, gegen den er so arg gefrevelt, sah er über sich ausgestreckt. Von Reue durchdrungen eilte er in die Kirche, bekannte auf den Knieen vor dem Bilde des Erlösers unter heißen Thränen der Buße seine Missethat und flehte um Gnade und Erbarmen. Nachdem der Ritter aus Herzensgrund lange so gebetet hatte, fühlte er sich getröstet und gestärkt und fand bei feiner Rückkehr in das Schloß einen gesunden Knaben und seine Hausfrau im erwünschten Stande. Als dieses Ereigniß [Ereignis] kundbar wurde, vermehrte sich die Andacht zum leidenden Erlöser in der weiten Umgegend, und die Kirche von Matrei wurde eine vielbesuchte Wallfahrtskirche, beschenkt und ausgezeichnet selbst von Landesfürsten. (Staffler I, S. 955.)

Die Pfarrkirche von Matrei, Außenansicht © Berit Mrugalska
Die Pfarrkirche von Matrei, Maria Himmelfahrt, in Pfons (Tirol)
© Berit Mrugalska, 11. März 2005

Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 880, Seite 511f.