Neun Köpfe [Schnabelmenschen]

Beim Übergang ins Defregger-Tahl sind gewaltige, übereinander geschichtete Granitblöcke, welche mitunter tiefe Grotten bilden. In diesen haben vor alten Zeiten die Schnabelmenschen gelebt, große, gewaltige Riesen, die anstatt des Mundes Schnäbel hatten. Diese zerrissen Menschen und Thiere, welche früh vor und abend nach dem Betläuten ausgiengen. Die Ochsen haben sie gebraten, die Knochen abgenagt und auf einen Haufen zusammengeworfen und die Haut darübergelegt. Mit einem Spruche konnten sie die Thiere wieder lebendig machen, jedoch waren selbe dann sehr abgemagert. In Pidig sind ihrer neun Mannsleute abends nicht mehr weiter gekommen und mußten in einem Stadel übernachten. Während der Nacht ist ein Schnabelmensch gekommen, und da haben alle neun auf einmal die Köpfe aus dem Heu erhoben. Da sagte der wilde Mann: "Bin neunmal alt und neunmal jung, aber so ein Thier mit neun Köpfen hab' ich nie gesehen," worauf er sich voll Schrecken eilends entfernte. Auf der Alm Verwon hat sich Einer nach dem Betläuten verspätet und da hat er einen Schnabelmenschen über's Joch kommen sehen. In seiner Angst ergriff er die Flucht, gieng aber rückwärts davon über den Schnee in's Thal hinab. Als der wilde Mann angekommen, sah er die Fußspuren, meinte, der Mensch müsse im Stadel sein, und warf alles Heu mit Wuth auf den Schnee heraus, um ihn zu finden. Den Braven und Frommen aber waren die Schnabelmenschen nützlich. So gieng ein Bauer morgens sehr früh zur Kirche und rief in den Wald:

"Jetzt geht's herunter und arbeitet."

Wie er zurückgekommen, war alles in Ordnung geschehen. (Gsies. Fridolin Plant.)


Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 189, Seite 117.