Das Salvekirchlein

In grauer Vorzeit lebte eine fromme Witwe Namens Ehrentraut. Sie war reich und hatte einen einzigen Sohn, der Johannes hieß. Der lebhafte Knabe begieng schon frühe allerlei Ausschweifungen. Die Ermahnungen der Mutter fruchteten nicht und er nahm an Bosheit zu. Er gab sich dem Spiele und dem Trunke hin, verschwendete sein Geld und vergriff sich am fremden Gute. Von der Obrigkeit verfolgt, zog er in den dunkeln Wald hinaus und warb zwei Gesellen. Er war Räuberhauptmann und beraubte und mordete Reisende auf der Straße. Da giengen der Mutter, die den Sohn verzogen hatte, die Augen auf und sie betete und weinte Tag und Nacht. Endlich faßte sie den Entschluß, ihren Sohn aufzusuchen, und drei Tage durchstreifte sie Berge und Wälder, um ihn zu finden. Sie kam matt und müde auf den Salveberg und ward vom Schlafe überfallen. Da träumte sie, das Haupt des hl. Johannes Baptista glänze über den blutenden Köpfen ihres Sohnes und seiner Gesellen. Als sie erwacht, betete sie inbrünstig zu Gott um die Bekehrung ihres Sohnes. Und bald sah sie ihn in der Morgendämmerung leichenblaß und abgezehrt daherwanken. Schuldbewußt senkte er den Blick zur Erde, als er seine Mutter sah. Diese grüßte ihn und sprach:

"Sohn, erkenne deine Missethaten, thue Buße und rette deine Seele!"


Darauf erzählte der Sohn, daß er in der letzten Nacht einen erschütternden Traum gehabt habe. Es hatte ihm dasselbe geträumt, wie der Mutter. Sie deutete den Traum und beschwor ihn knieend und weinend, ihr zu folgen. Er gehorsamte und folgte ihr - zum Gerichte. Gerührt begleiteten ihn auch seine zwei Raubgesellen. Reumüthig und christlich zum Tode vorbereitet, starben sie auf der Richtstätte. So war die Schuld gesühnt. Die fromme Ehrentraut verkaufte ihren Hof und baute auf der Stelle, wo sie die Bekehrung ihres Sohnes erfleht, eine Kapelle zu Ehren des hl. Johannes des Täufers. Bald entstand eine Wallfahrt. (Nach Staffler I, 808.)

Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 1006, Seite 577.