Der Platter Putz

Im Jahre 1675 verbreitete sich unter den Bewohnern des Ötzthales das traurige Gerücht, der Vernagtferner sei wieder im Wachsen begriffen und drohe einen fürchterlichen Ausbruch. Die betrübende Kunde erhielt die Gemüther in der bangsten Erwartung bis zum Jahre 1678, in welchem die angehäuften Gewässer die Fesseln sprengten und mit wildem Toben durch das Thal brausten. Beim Weiler Platten verließ die ergrimmte Ache den sonst ziemlich geraden Lauf und strömte mit einer mäßigen Beugung aus der durchbrochenen Arche über die Fluren. Ohne weiteres Bedenken ward dem Bache mit gegenseitigem Einverständnis die frühere Richtung gegeben. Die Aufkehr nach erfolgtem Ausbruche im Jahre 1679 war schon mit bedeutenden Streitigkeiten verbunden. Das verhängnißvolle Jahr 1681 hatte einen erneuten Fernerbruch im Gefolge und die wüthende Fluth zertrümmerte bei Platten an der nämlichen Stelle den Archenbau am linken Ufer und wälzte sich ober dem Dorfe Huben über die Felder. Dieses Mal war die Eindämmung des Baches in das alte Bett von großen Schwierigkeiten begleitet; denn ein großer Theil stemmte sich gewaltig gegen ein nochmaliges Einleiten des Wassers, wie es in den vergangenen Jahren geschehen war. Es kam zu argen Streiten zwischen den Bauern von Huben und Längenfeld und andern betheiligten Parteien, bis man sich endlich dahin verstand, den obwaltenden Zwist durch einen Augenschein von Seite der politischen Behörde beizulegen. Das zum Behufe der amtlichen Besichtigung und Berichtigung eingetroffene Personale bestand der Sage gemäß aus drei Herren, von denen einer aus Wien, zwei aus Innsbruck gekommen waren. Einer von denselben ritt einen muthigen Schimmel, der zweite einen stattlichen Rappen und der dritte gieng zu Fuß. Alle drei hatten rothe Kappen auf. Die betheiligten Gemeinden waren durch Männer aus ihrer Mitte hinreichend vertreten. Die Herren hatten Briefe in den Händen und sprengten das Rinnsal auf und nieder, um ein zweckmäßiges Gutachten über den künftigen Lauf der Ache abgeben zu können. Hierauf kehrten alle drei wieder in's Dorf Längenfeld zurück, allwo sie im "Pitzers Hause", welches dazumal ein Wirthshaus gewesen sein soll, einsprachen und die Sachlage zu Protokoll gaben. Ihr Ausspruch lautete dahin, daß die Ache nicht mehr nach Art der verflossenen Jahre in den alten Runst eingepfercht, sondern nach Andeutung des Bruches gegen den Weiler "zu der Mühl" geführt und von da zwischen Ober- und Unterastlen weiter geleitet werden solle. Dies gab in der Folgezeit zu den verschiedenartigsten Unzufriedenheiten und Streiten von Seite der verkümmerten Grundbesitzer Veranlassung.

Späterhin, besonders bei gefahrdrohender Wasserhöhe sah man in den nächtlichen Stunden den sogenannten Platter Putz. - Das schwarze Roß mit dem glühenden Reiter trabte voran, das weiße mit dem feurigen Tümmler folgte und der Fußgänger mit einer Hand voll Schriften schritt in feuersprühender Gestalt hintendrein. So gieng der grausenhafte Zug fort, bis sie sich beim Dorfe Längenfeld als flammende Irrwische verloren. -

Einmal giengen drei Geistliche diesen unheimlichen Weg und begegneten dem schauerlichen Putz. Einer war so beherzt ihn anzureden, konnte aber denselben nicht wieder los werden, bis ihn der begleitende Kapuziner befreite. Ein anderer Priester gerieth vor Schrecken auf einen Abweg, verlor einen Schuh und kam erst nach langer Zeit in schrecklicher Gestalt im Widum zu Huben an. -

Einem Bauer begegnete einmal der brieftragende Mann, der ihm die Schriften anbot. Ersterer wußte vor lauter Schrecken nicht, wo er stehe, und nahm sie nicht an. Einige sagen, er hätte sie nehmen sollen, andere behaupten das Gegentheil. (Ötzthal.)

Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 367, Seite 214.