Der Pestreiter
Wenn man von Kaltern
aus durch die Weinberge nach dem Dorfe Oberplanitzing
geht, kommt man 300 Schritte vor dem Dorfe zu den sogenannten Gräbern.
Ein kleines, hölzernes Bildstöcklein, in dem statt des Bildes
einige gebleichte und halbvermoderte Gebeine zu sehen sind, bezeichnet
besagte Stelle, von der man verschiedene Sagen erzählt.
Macht ein einsamer Wanderer diesen Berg zur Nachtszeit und hat er die
Karneller-Lahn überschritten, so hört
er plötzlich hinter sich das Gestampfe und Geschnaube eines wild
daher galoppirenden Pferdes. Er mag langsam oder schnelle gehen, das unheimliche
Pferd folgt ihm. Blickt er um, so sieht er einen großen Schimmel,
auf dem ein schwarzer, kopfloser Reiter sitzt. Scheint der Mond, so kann
man bemerken, daß Roß und Reiter keinen Schatten werfen. Die
Erscheinung folgt bis zu den Gräbern und dann stößt sie
einen tiefen Seufzer aus und verschwindet. Geht man von Oberplanitzing
nach Kaltern, so erscheint der Reiter bei den Gräbern und verschwindet
bei der Karneller Lahne. Fragt man einen
alten fachkundigen Mann um Bedeutung dieser Erscheinung, so hört
man folgende Sage.
Vor vielen, vielen Jahren wüthete in Kaltern und seiner Umgebung
die Pest auf eine fürchterliche Weise, nur Oberplanitzing blieb von
der schrecklichen Seuche verschont. Das hörte ein schadenfroher Kalterer,
der sich von der Pest angesteckt fühlte, und beschloß die Sterblichkeit
auch in Oberplanitzing zu verbreiten. Er sattelte sein Pferd und sprengte
dem besagten Dorfe zu. Als er aber zu den Gräbern gekommen, sank
er vom Pferde und rang mit dem Tode. Das reiterlose Pferd rannte vorwärts
und kam in das Dörflein. Die Einwohner wurden dadurch neugierig gemacht,
woher etwa das Pferd gekommen sei, und suchten die Straße auf und
ab, bis sie zum sterbenden Reiter kamen. Sie standen ihm im Tode bei und
begruben ihn bei den Gräbern. Am nämlichen Tage noch brach im
Dorfe Oberplanitzing die Pest aus und es war des Sterbens kein Ende, bis
das ganze Dorf beinahe entvölkert war. Die Todten wurden an der Stelle
begraben, wo der Reiter verschwindet. (Kaltern.)
Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus
Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck
1891, Nr. 9, Seite 5.