Der Norg in Planail
Im Thale Planail, in Obervinstgau, liegt tief
im Hintergrunde und rechts gegen Matsch und Schnals sich wendend die Alpe
Norgles, die ihren Namen nicht umsonst hat, da der Gebirgsstock zwischen
Matsch, Schnals, Passeier und dem Ötzthale voll Norgensagen ist.
Eine dieser Sagen lautet also:
In Planail kam alle Wochen zweimal zu einem Bauernhause ein Norg, einen
Schuh lang, ziemlich dick, mit grüner Jacke und grünen Hosen,
und setzte sich, besonders abends während der Bereitung des Nachtmahles,
auf das Küchenfenster und zeigte durch ein gellendes und durchdringendes
Jauchzen seine Ankunft an, erschreckte dadurch die Bäuerin in der
Küche, daß sie einen Hupf thun mußte, die Suppe in's
Feuer goß und am ganzen Leibe zitterte. Darauf gieng der schelmische
Norg lachend weg. Die Bäuerin fragte alle ihre Nachbarinnen um Rath
und erzählte ihnen, wie der Norg die Eier stehle, bevor sie von den
Hennen gelegt werden, zwei Kälber an eine Kette zusammenhänge,
den Kühen die Milch aus dem Euter wegpraktizire, und besonders dem
Mastschwein bei lebendigem Leibe den Speck wegschneide und von dem in
der Küche aufgehängten Specke große Portionen abzwacke.
Man rieth ihr Weihwasser und Almosengeben. Diese Mittel halfen höchstens
auf einen Monat, dann kam der Norg wieder und war noch tükischer,
wie wenn er das Versäumte einbringen wollte. Einmal kam eine Bäuerin
von Mals, die pfiffige gennant, nach Planail, und diese gab der Bäuerin
folgenden Rath. "Richte du dir," sprach sie, "eine große schwere
Mausfalle, nimm ein gutes Stück Speck als Köder und stelle sie
auf das Küchenfenster, du darfst aber kein Feuer schüren, und
alle im Hause müssen mausstille bleiben. Kommt dann der Norg und
findet den Speck, so packt er ihn und reißt die Falle zu. Ist er
drinnen, so kommt schleunig herbei und droht ihm, noch einen Stein darauf
zu schweren oder ihn mit der Feuerkluppe zu zwicken, wenn er nicht verspräche,
euch für immer in Ruhe zu lassen."
Dieses Rezept gefiel der Planailerin; sie tat, wie ihr gesagt, und fieng
den Norg noch in der nämlichen Woche. Unter dem Fallblock winselte
und seufzte der Norg und bat um Erlösung; denn er war fast platt
gedrückt. Eine große Lawine von Schimpfwörtern loslassend,
lief die Bäuerin mit ihrem Mann, den Kindern und Dienstbothen herbei,
und nun mußte er versprechen, das Haus auf immer zu meiden und nie
mehr zu kommen. Wimmernd versprach er es, wurde sofort losgelassen und
kam nie wieder. (Obervinstgau.)
Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus
Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck
1891, Nr. 120, Seite 73.