Der Markstein
In Ulten ist eine Alpe, welche die Schwemm heißt.
Auf dieser Alm steht ein Crucifix, von dessen Ursprung und Bedeutung die
alten Leute folgendes erzählen.
Es waren einst zwei Bauern Besitzer dieser Alpe. Der eine von ihnen war
mit seinem Antheile nicht zufrieden, hub Grenzstreitigkeiten an und behauptete,
die Grenze sei einst beinahe in der Mitte vom jetzigen Antheil seines
Nachbars durchgegangen und nur durch die Sorglosigkeit der Hirten sei
diese alte Grenze vergessen worden. Die Sache kam vor Gericht, allein
weil keine Partei Zeugen aufbringen konnte, so hatte der Richter auch
schweres Entscheiden. Da trieb den neidischen seine Habsucht so sehr,
daß er einen Schwur that und sprach: "Ich schwöre, daß
ich wahr geredet habe, und habe ich eine Lüge gesagt, so soll mein
Kopf als Markstein dienen !" Der andere erschrak über die gottlose
Rede und sagte: "Nachbar, auf deinen Schwur hin überlasse ich die
Alpe, aber die Zukunft wird zeigen, ob du wahr gesprochen !"
In kurzer Zeit starb der Meineidige, und am folgenden Tag fanden die Hirten
einen Kopf auf der alten rechtmäßigen Grenzscheide liegen.
Sie erkannten ihn sogleich als den Kopf des ungerechten Nachbars, und
bald darauf hörte man die Kunde hievon im Dorfe drunten. Der Leichnam
des Verstorbenen war inzwischen begraben worden, und um der Sache auf
den Grund zu kommen, machte man das Grab auf. Der Todte lag wirklich ohne
Kopf in dem Sarg. Man trug nun den Kopf zu dem Rumpfe herab, allein sogleich
war er wieder oben. Da half kein Beten und einsegnen, der Kopf kehrte
so lange auf die Alpe zurück, bis er dort verfaulte und zu Staub
verfiel. Der lebende Nachbar nahm nun seinen Theil wieder in Besitz und
ließ an dem Platze, wo der Kopf gelegen hatte, ein Crucifix aufstellen.
Ulten.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben
von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 375, Seite 218.