Die Lilie auf dem Grabe
Aus dem Grabe des h. Andreas von Rinn erwuchs im folgenden Herbst, wo
sonst alle andren Blumen verwelken eine schneeweiße Lilie hervor,
und als dieselbe sich in die Blätter auszubreiten begunde, hat man
gewisse Zeichen der Buchstaben beobachtete; doch waren sie jedermann so
leicht nicht erkenntlich. Während der Zeit, da man dem Inhalt derselben
nachforschte, hat sich ein muthwilliger Bub aus dem Geschlecht der Pögler
erkühnt, gemeldte schneeweiße Lilie, nachdem sie etliche Tag
gedauert, abzubrocken. Diese Frevelthat ist solchem Geschlecht auch theuer
zu stehen gekommen, denn selten ist aus selbigem einer zu Grab getragen
worden, der nicht eines unzeitigen oder gewaltthätigen Todes gestorben
wäre.
(Nach Schmieds heil. Tiroler Ehrenglanz II, S.
162)
Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 324, Seite 194.