Die Kohlfräulein

Im Oberwald, der sich gegen die Ultner Gränze hinzieht, hausten vor vielen Jahren die Kohlfräulein, welche verwünschte Leute waren. Zu Zeiten kamen sie auf die nahe gelegene Weide, um mit den das Vieh hütenden Kindern zu kurzweilen. Sie hüpften und tanzten, rupften auch für das Vieh Gras, molken aber dafür auch die Kühe. Kamen zuweilen erwachsene Leute in die Nähe, flohen sie zu einer großen "Ganne" und verschwanden darin spurlos. Sie waren bunt gekleidet und nicht höher als ein Tisch. Im Oberwalde, wo es viele solche Fräulein gab, wohnte auch der wilde Mann, der ihnen auflauerte oder auf sie Jagd machte. Fieng er ein Fräulein, rieß er es in Stücke und fraß es auf. Wenn er ein Fräulein jagte, gab es für dieses nur ein Mittel, sich zu retten.

Es mußte sich auf einen Baumstock setzen, in den ein Kreuz gehauen war. Aber das Kreuz mußte in den Stock gehackt werden, während der Baumstamm fiel. Da es im Walde nicht häufig solche Stöcke gab, wurden viele Fräulein gejagt und zerrissen und man hörte sie oft jämmerlich schreien.

Ein alter Pergerbauer, dessen Hof an den Oberwald gränzte, rief einmal dem wilden Mann, als er jagte, zu: "Wildmann, trag' mir mein Theil her!" Auf dies kam schnell der Wilde und hängte eine kleine Frauenhand an die Hausthüre, die man nicht wegbringen konnte. Des andern Tags, als wieder der wilde Mann vorbeifuhr, rief der Bauer: "Wildmann, geh' her um dein Theil!" Darauf nahm der Jäger die Hand und trug sie fort. Nach und nach verloren sich die Kohlfräulein, und als der wilde Mann keine Fräulein mehr zu fressen bekam, gieng er auch fort. (Proveis.)


Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 80, Seite 54.