Der Esel
Beim Sternwirth in Meran war einmal ein Hausknecht,
der die Hexen von anderen Menschen unterscheiden konnte. Dieser stand
eines Morgens mit einem Passeirer vor der Hausthüre, als die Leute
aus dem Rorate nach Hause giengen, und zeigte diesem einige Hexen, die
unter den Heimkehrenden sich befanden. Als er einige Tage darauf hinter
den Mauern hinunterfuhr, ward er plötzlich von einer Hexe, die ihn
sah und sich an ihm rächen wollte, in einen Esel verwandelt. Als
solcher kehrte er in's Sternwirthshaus zurück, wurde aber weggetrieben.
Dach- und herrenlos irrte er nun auf dem Sandplatze herum und graste dort,
bis der englische Müller sich des verlorenen Thieres erbarmte und
dasselbe zu sich nahm. Der verhexte Hausknecht mußte da alle Dienste
eines Mülleresels thun und bekam dafür Stroh und Schläge.
Das dauerte lange Zeit. Da mußte er wieder einmal mit Mehlsäcken
über die Mauern hinuntertraben, als gerade die Hexe, die ihn verwünscht
hatte, mit einer anderen dort stand und plauderte. Als sie den Esel sah,
sprach sie zur anderen: "Sieh, diesem Dolm habe ich's gedreht. Weil er
so vorlaut gewesen, ist er ein Esel geworden."
"Und muß er immer so bleiben," fragte die zweite.
"Ja," antwortete die erste, "wenn er's wüßte, könnt' er
sich leicht helfen. Er dürfte nur ein geweihtes Kränzlein am
Fronleichnamstag erschnappen und essen, und all' meine Kunst wäre
umsonst."
Der Esel hatte die langen Ohren gespitzt und ihr ganzes Gespräch
vernommen. Als am nächsten Fronleichnamstag die Prozession gehalten
wurde, wußte er sich loszumachen, entriß einem Leuchterträger
Kerze und Kränzchen und fraß das letztere. Kaum hatte er dies
gethan, als der Zauber gelöst war, und der verlorene Hausknecht dastand.
- Die Hexe wurde festgenommen und auf dem Sinig verbrannt. (Meran.)
Quelle: Sagen aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben
von Ignaz V. Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 756, Seite 427.