DAS WILDE WEIBCHEN

In einem Dorfe im Oberinnthal kam sieben Jahre lang ein wildes Weibchen zu einer Familie auf Besuch und setzte sich schweigend auf den Herd. Es that keinem ein Leid, doch niemand getraute sich, zu ihm etwas zu sagen. Da gieng der Bauer eines Tages auf einen Berg Holz hacken. Als er bei seiner Arbeit einmal aufschaute, sah er zu seinem größten Schrecken einen wilden Mann vor sich, der zu ihm sprach: "Du, Holzhacker, sag' zum Stitzl, zum Wizl, der Thorizl sei todt!" Abends, als der Bauer heimgekommen war, teilte er dem wilden Weibchen die Botschaft mit. Da begann es zu weinen und zu klagen und sprach: "Hättet ihr mich um mehr gefragt, hätte ich euch mehr gesagt!" Mit diesen Worten machte es sich auf und davon und ließ sich nie wieder sehen. (Bei Imst.)


Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck 1859, Nr. 79, Seite 54