Die andere Welt

Vor vielen Jahren taten zwei Freunde auf einer Alm im Dornauberg einen Sommer lang Dienst, der eine als Melker, der andere als Käser. Sie waren mit ihrem bescheidenen Leben zufrieden, arbeiteten fleißig und hatten nie Streit miteinander.

An einem Abend saßen sie nach getaner Arbeit auf der Bank vor der Hütte und unterhielten sich darüber, wie es wohl in der "anderen Welt" aussehen mochte. Da schlug der eine von ihnen vor, dass jener, der als erster von ihnen das Zeitliche segnet, noch einmal zurückkommen und dem anderen über die "andere Welt" berichten sollte. Sein Freund war damit einverstanden, und bald darauf lagen sie beide in ihren Betten.
Nicht lang danach tat einer von ihnen den letzten Schnaufer und wurde im Kirchhof drunten zur Ruhe gebettet.

Als der Freund vom Begräbnis zurück auf die Alm kam, ging er zur abgemachten Stunde in den Stall und wartete, dass sich der Verstorbene melde. Damit ihm die Zeit rascher vergehe, nahm er ein Stück Holz und begann, daran herumzuschnitzen. Damit verging eine gute Weile, der tote Freund wollte sich aber nicht zeigen.

"Wird wohl keine Ewigkeit geben", dachte der Wartende und steckte das Messer ein. In diesem Augenblick stand der Abgeschiedene vor ihm. "Warum kommst denn so spät?", fragte der Freund, als er den ersten Schrecken überwunden hatte.

"Hast ja nit eher Feierabend g'macht", lautete die Antwort.

"Und - wie schaut's aus in der anderen Welt?"

"Es wird viel gerechnet und wenig nachgelesen", versetzte der Tote und verschwand wieder.

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 119f.