Die weiße Gams am Hohen Beil

Der zackigste, höchste Berg mit schneidigem Grat unter den goldgekrönten Spitzen, Kuppen und Hörnern der Wildschönau ist der Hohe Beil, auch Fromkaser genannt.

Mit seinen 2310 m überragt er majestätisch seinen massiven Nachbarn, den mit grünem Rasenhut bedeckten Lämpersberg.

Bald bietet er seine Felsenbrust dem berstenden Föhn zum Trutze, bald umlockt ihn der säuselnde Firn von den Zillertalern herüber, einmal setzt ihm die gütige Sonne als dem König der Umgebung die goldfunkelnde Krone auf und dann, dann reißt sie ihm düsteres Wolkenspiel in Arg und List wieder vom Haupt. In dunkle Schwaden gehüllt, versteckt er sich oft ganz und läßt Blitz und Donnergroll unbekümmert an sich vorbei ins Tal ziehen.

Speik und Arnika und manch andere liebliche Höhenblümlein zieren, wie von sorglicher Hand auf grüne Rasenpolster gestickt, sein königliches Kleid.

Im Winter rollen und grollen in seinen mächtigen Steinhalden und Altersritzen die Lawinen in die Tiefe.

Über seine tiefen Klippen und Klüfte springt lebensfroh und mutig der stolze Gemsbock und manch abstürzender Steinblock stört ihn ab und zu in seinem ewigen Traum.

Da stand sie einmal droben, die weiße Garns. Weiß wie der Schnee war sie, zauberhaft schön wie im Schleier der Alpenkönigin, von ihrer Gunst umhüllt und ihrer Sorg und Lieb behütet.

Unsichtbar dem gewöhnlichen Menschenauge, von holden Berggeistern beschützt und bewacht, konnte sie nur selten einer schauen.

Einer aber sah sie, sah sie deutlich und untrügerisch.

Der Jäger Toni, ein prächtig gewachsener und markiger Bauernbursch des Tales, mit blauen Augen und hellblondem Haar, voller Schneid und Herzenslust, des öfteren mit seinem Stutzen in Wind und Nebel auf dem Felsvorsprung, anstatt im Tal das immergleiche Alltagsleben auf seine Schultern drücken zu lassen, hatte dieses Glück.

Er, der längst den Bergen all ihre Geheimnisse abgelauscht, die Jochfinken plaudern und das Haselhuhn lispern [sic] gehört, mit all den Tierlein des Hochwaldes vertraut war und ihre Sprache verstand wie sonst keiner, jedes Quellbrünnlein raunen hörte und den Gesang der Lüfte erlauschte, hundertmal der Höhen untrügliches Echo in seine Brust schlürfte, er sah, sie, wirklich und wahrhaftig, die weiße Gams, wie sie oben stand auf dem scharfen Grat, voll von märchenhafter Schönheit.

Und er sah sie zu ihm herunterblicken zur rieselnden Steinlahn hinter den Latschenschöpfen, wehmütig und voller Ingrimm zugleich, zu ihm, der sie in ihrem Reich gestört, zu ihm, dem es gegönnt war, sie leibhaftig zu schauen und zu bewundern.

"Wer die weiße Gams verstohlen und fein versteckt ihrem Blick entzogen von der Felswand knalle, ihr heißes frisches Herzblut trinke, der könne sich das schönste Glück der Welt selbst bestimmen, die schönste und begehrteste Jungfrau, und wärs eine Königstochter, als Braut heimführen." So hatte er einmal gehört.

"Wehe aber dem, den sie erblicke, wenn er auf sie ziele, ehevor noch das tödliche Geschoß ihren Leib durchbohre, er würde von unsichtbarer Hand erfaßt und in die Tiefe geschleudert."

Das Herz brannte ihm, die Lippen zuckten ihm wie im Fieberfrost, es rüttelte und schüttelte ihn.

Nur eines schwebte ihm noch vor Augen: Die weiße Gams und die schönste Jungfrau.

Als er zu Tal stieg, wollten ihn schier die Füße nicht mehr halten, er war, wie von einem Zauberstrahl getroffen.

Die schönste Jungfrau, er wüßte sie wohl gar zu gut, und wo die Gams steht, noch besser.

Wochen vergingen, ohne daß er es wagte, seine sehnsüchtigen Schrofenwände wieder zu erklimmen.

Das heiße Herzblut der weißen Gams und das noch heißere Verlangen nach der schönsten Jungfrau hielt seinen Sinn Tag und Nacht gefangen. Und er muß es wagen!

Sein Stutzen, mit dem er manchen Bock heruntergezielt wie sonst keiner, glitt täglich dutzendmal durch seine Hand. Spiegelblank war der Lauf, verlockend das Blei, sicher seine Augen, verwegen sein Mut, ruhig seine Hand - und - und übergroß, unsagbar dann sein Glück.

Und nur ihm, ihm allein könnte dies erreichbar sein.

Ein stiller, lieblicher Abend ging zur Neige.

Das letzte Sonnenglühn umzog den feierlichen Kranz der Wildschönauerberge.

Fest entschlossen, am nächsten Tag sein Vorhaben auf die Probe zu stellen, schlich der Bursche, keck und waghalsig wie er war, mit seinem Stutzen der Alm Fromkaser zu. Dort wollte er, um für den kommenden Morgen einen Vorsprung zu haben, übernachten.

Im Traum zielte er hinauf, auf die ihm bekannte Stelle, und dann - dann neigte sich die zarte Jungfrau und streichelte und küßte ihn, ihn, den mutigen Sohn der Berge.

Rasch schwand die Nacht.

Eine kreischende Auerhenne weckte ihn aus dem Schlaf.

Beim ersten Dämmerschein brach er auf.

"Heute oder nie!" So lautete sein unverrückbarer Entschluß.

Am selben Plätzchen machte er Halt, nachdem die Schatten der Nacht gewichen, dort, wo er damals stand.

Haargenau wußte er noch diese Stelle.

Den Stutzen fest in der Hand, mit starren Augen den Blick nach oben gerichtet, kauerte er auf der engen, rasigen Steinplatte.

Kein Laut, kein Getöse, kein mutwilliges Lüftchen störte die einsame Ruh.

Nur das schwache Echo einer Weise tönte an sein Ohr, so sonderbar und wehmütig:

"Host s'Gamsl obagschossn,
I sich die blutigrot!
0 du mein Herzliebster,
Du bist am End gar tot!"

Vorsichtig duckt er sich.

Sie darf ihn nicht sehen, sonst ist es aus und geschehen um ihn, ganz ungesehen muß - er sie, - muß er sie frischweg vom Fleck schießen.

Da - siehe!

Ein schwaches Zittern durchbebt ihn.

Sie ist, sie ist es, wahrhaftig, die weiße Gams!

Ganz ruhig steht sie oben, in nur geringer Schußweite, sieht ihn nicht und ahnt nichts Böses.

Er hebt den Stutzen, setzt an - zielt.

Sie bemerkt ihn nicht.

Jetzt gilts!

Er - drückt - ab.

Ein dumpfer Schuß schreckte die Lüfte.

Den Knall hatte er noch gehört und dann, - dann nichts mehr.

Die Gams sah er nicht mehr fallen.

Dunkel wards im Nu vor den Augen, der Boden wankte, wie von den Füßen weggerissen.

Es war um ihn geschehen.

Durch den Latschensteig, zwischen Steinblöcken und Geschröf, zwängte sieb in den vom Sonnenbrand gesättigten Mittagsstunden ein Mädchen, das einfachste, schlichteste, aber schönste und begehrteste des Tales.

Eine ,,hoamliche Lieab" hatte sie schon lange zum Toni, die Nandl, aber bis jetzt sorglich versteckt wie der Nelkenstock auf dem gebräunten Balkon ihres väterlichen Gehöftes in seinem Knospengebild die feuerroten, zarten Blütenblättchen.

Wohl ist er ihr schon oft ganz verstohlen nachgestiegen und hat angehalten um sie, wenn er sie an Samstagen nach dem Feierabend um einen Stengel Rosmarin für seinen Feiertagshut anhielt und ihr in die Augen schaute.

Aber ihr Herzkämmerlein hielt sie ihm bis jetzt verschlossen wie der harte Stein im Berg das pure Gold.

Aber auch kein anderer konnte ihr bis jetzt nahe kommen.

Einen sicheren Beweis seiner echten Liebe sollte er ihr zuerst erbringen.

Nur ihr hatte er sein Vorhaben mit der weißen Gams, ehevor er fortging, noch am Gartenzaun heimlich erzählt.

Sie hätte es nie geglaubt, daß er wirklich ernst machen und über die Wand klettern würde, wenn sie ihn nicht noch in weiter Ferne am Waldrand über den Zaun hätte steigen sehen.

Ihretwegen - ja, nur ihretwegen!

So liebte er sie also.

Keine ruhige Minute hatte sie daheim, Schreckensbilder plagten sie im Halbschlaf und der nächste Morgen wollte gar nicht anbrechen.

Mit dem Vorwand, daß sie zur Alm Neuhägen gehe, verließ sie schon zeitlich ihr Heim.

Der schroffe Pfad, den sie nun hastig und gewandt bezwang, führte von der Neuhägneralm hinüber nach Gressenstein. Nicht leicht ist hier durchzukommen, es gehört eine schwindelfreie Schneid dazu. Bald verwehren die Zwergkiefern den Durchgang, bald gähnt je und steil der Abgrund empor.

Und da, - da hatte sie den Schuß gehört, dreimal warf ihn das klare Echo an ihr Ohr. Und dann, dann einen lauten, markerschütternden Schrei, und dann - nichts mehr.

Das muß er gewesen sein!

Vorwärts drängte sie, vorwärts. Aber selbst das Gestrüpp am Boden schien sie festzuhalten.

Ihr Herz rumpelte wie das Goldmühlerl am Lämpersberg, das junge Blut schoß ihr durch die Adern, ihre blühenden Wangen wurden röter, glühend rot wie der Almenrausch ihrer Umgebung.

Bald den Blick vorsichtig auf den Boden, bald zu den nackten Gesteinen in die Höhe gerichtet, spähte sie wie mit Geieraugen durch die klare Höhenluft.

Wie eine Wildkatz windete sie sich überall durch.

Da! - Erschreckt blieb sie stehen.

Bin Geräusch und dann - eine Gestalt.

Wie aus dem harten Boden gestampft steht er auf einmal vor ihr, der Toni.

"Toni - du!"

Ihre rosenfarbenen Wangen sind bleich geworden.

"Hast du wirklich auf die weiße Garns geschossen?"

"Du blutest ja ?"

"Nandl, wie kommst du da her" ? frag er auch sichtlich überrascht.

"Freilich habe ich auf die weiße Garns geschossen. Ich weiß nicht, ob ich sie getroffen habe. Ich hörte noch den Knall und dann, dann wards im hellsten Sonnenschein dunkle Nacht um mich.

Als ich wieder zu Sinnen kam, lag ich neben einer Zirbe zwischen Latschen und Almrosen. Das Blut rann mir von der Stirn und alles, alles war mir wie ein Traum. Weiß nicht, waren es die drohenden Berggeister, die mich erzürnt in die Tiefe gestoßen oder waren es finstere Mächte, welche die Gams rächen wollten."

"Und ihr frisches Herzblut hast du nicht mehr trinken können ?"

"Nein, nimmer - nimmer!"

Da lehnte sie sich auf einmal zärtlich an ihn wie die frisch aufgeblühte Nelke an den Rosmarin in lauer Sommernacht, sie faßte seine Hände und schluchzte:

"Toni, ich weiß es! Meinetwegen bist du hinaufgestiegen, nur meinetwegen! Hast du auch das Herzblut der Gams nimmer trinken können, was du gewollt, das hast du dir erjagt: Mein Herzlieab und mein Herzblut! Hier bin ich, ich will dein sein und nie mehr von dir lassen, mein Leben lang. Du hattest dein Leben aufs Spiel gesetzt, jetzt weiß ich, daß es dir ernst ist mit deiner Lieab."

"Nandl, ists möglich ? Wirklich ? Also hat mir die weiße Gams am Beil doch, mein Glück gebracht!"

Und von diesem Tag an blieb es auch bei ihnen liegen.

Die weiße Gams am Fromkaser hat aber seither niemand mehr gesehen.

   Adolf Mühlegger

Quelle: Der Sagenkranz der Wildschönau, in: Heimat Wildschönau, Ein Heimatbuch, Dr. Paul Weitlaner, Schlern-Schriften Nr. 218, Innsbruck 1962, S. 125 - 155.