Das wilde Geschrei

Den Mythen vom wilden Jäger ähnlich lautet die Sage vom wilden Geschrei. Wir geben sie hier wieder, wie sie in der Wildschönau erzählt wird.

Das wilde Geschrei rührt von büßenden Geistern her, die in der Luft umherwandern müssen ohne Rast und Ruhe. Gemeiniglich verstehen die Leute unter dem wilden Geschrei die Geisterscharen selbst. Wenn sich nämlich mehrere solch büßender Geister der Luft auf ihren Wanderungen treffen, so bilden sie einen Zug und heulen fürchterlich. Das unheimliche Geschrei erhebt sich in allen vier Weltgegenden zugleich, und es ist für den Menschen sehr gefährlich, in freier Weite zu sein, wenn es hörbar wird und die Geister sich mithin insgesamt aufmachen zum Zuge über Feld und Wald. Wirft man sich dann nicht augenblicklich auf den Boden, das Gesicht zur Erde gewendet, so wird man vom wilden Geschrei in die Luft gehoben und fortgetragen, weiß Gott, wie weit. Und man kann sich dann weder durch Beten noch durch Fluchen mehr losmachen.

Vor vielen Jahren war einmal zu Lehen im Bacherwinkel ein Kind des Nachts bei Mondschein noch auf dem Felde draußen, um sogenannte Palmkätzchen zum Palmbuschen zu suchen, da kam das wilde Geschrei, vertrug das Kind durch die Luft und ließ es erst auf dem Füllkogel zur Erde nieder.

Von Zeit zu Zeit hört man das wilde Geschrei immer wieder, und vor nicht langer Zeit ist es wieder durch die Wildschönau gezogen.

In einigen Orten des Pustertales glauben die Leute, solch tobende Geister hätten in den Wolken den Sitz und machten auch das böse Wetter.

   J. A. Heyl

Es ist Nikolausabend, eine helle kalte Mondnacht, der Himmel ist mit blinkenden Sternen übersät. Der Klas (St. Nikolaus) eilt unsichtbar von Haus zu Haus und legt braven Kindern in ihre aufgestellten Schüsseln ein, Äpfel, Nüsse, gedörrte Birnen und Kirschen, auf alle Fälle auch eine Rute aus Birkenreisern.

Eine Anzahl der übermütigsten Burschen von Oberau, häßlich in Häute, Felle und Hütten gehüllt, mit Hörnern auf dem Kopf, treiben heute, toller wie eh und je, ihr Unwesen. Die Kinder schreien und zittern, wenn die Unholde versuchen in das Haus zu gelangen, wehe dem jungen Weibervolk, wenn es in die rußigen Hände der Klasteufel geraten war. Durch oftmaliges Schnapstrinken sind sie ihren Vorbildern, den leibhaftigen Teufeln, um vieles ähnlicher geworden.

Nun ist schon Mitternachtszeit und wie ausgemacht, treffen sie sich zum Abschluß des wilden Treibens vor dem alten Kellerwirtshaus beim Dorfbrunnen. Heimgehen ist noch zu früh und der Wirt hat die Tür schon längst abgesperrt. Voll Übermut hüpft einer mit hellem Jauchzer quer über den Brunnen trog, einer nach dem andern hüpft nun mit Jauchzen oder auch mit scheußlichem Geplärre über den Trog, dem einen gelingt es besser, der andere ist ungeschickt und wird ausgelacht. Nun stellt sich einer an und mit gellendem Jauchzer macht er einen Sprung längs über den großen Trog. Der wilde Schrei geht allen durch Mark und Bein, die ärgsten Tollköpfe werden still und auf einmal beinahe nüchtern. Keiner von ihnen würde sich einmal getrauen einen solchen Sprung zu wagen. Wer war der Springer? In ihrer Vermummung gleicht einer dem anderen, sollte sich ein Fremder eingeschlichen haben? Der sollte noch seinen Denkzettel erhalten, darüber sind sich alle einig. Einer zählt ab, ihrer zwölfe sind nach dem Betläuten ausgerückt. Er zählt bis dreizehn, ein anderer zählt ab, ihrer dreizehn umstehen den Brunnentrog. Vom hohen, mit drei Kuppeln geschmückten Kirchturme schlägt es ein Uhr. Noch einmal wird abgezählt und nun stimmt es, es sind ihrer zwölfe, keiner mehr und keiner weniger. Wer in ihrer Mitte weilte und mit ihnen Unfug trieb, darüber hat keiner der Burschen einen Zweifel.

Nachdenklich und kleinlaut gehen sie grußlos auseinander.

    Josef Klingler, Oberau

Quelle: Der Sagenkranz der Wildschönau, in: Heimat Wildschönau, Ein Heimatbuch, Dr. Paul Weitlaner, Schlern-Schriften Nr. 218, Innsbruck 1962, S. 125 - 155.
Siehe auch: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897, Nr. 25, S. 65f