Der Daumenhansl

In Wildschönau erzählt man viel vom daumenlangen Hansl, der nur selten daran dachte, was sich unter Menschen schickt, und lieber böse Streiche verübte als gute. Als es den Leuten zuviel ward, fingen sie den Hansl und schickten nach dem Henker, daß er ihn kunstgerecht aufhänge. Aber der Hansl war stets ein Tückebold gewesen and bat den Henker, als sie beide am Galgen standen, daß er ihm zeige, wie es beim Hängen hergehe, er könnt's am End nicht recht machen und allzulange zappeln, denn er habe es seiner Lebtage noch nie probiert. Also zeigte es ihm der Henker und steckte den Kopf in die Schlinge; der Hansl aber faßte das Seil und zog und zog, bis der Henker erstickte. Darauf machte er, daß er bei Zeiten fortkam. Wie er nun auf dem Wege dahinschlenderte, kam ein Unwetter, und er verkroch sich in ein Büschel Heu auf der Wiese. Es machte sich aber eine Kuh daran und fraß das Heu samt dem Däumling hinunter. Um aus dem Kuhmagen zu kommen, biß und kratzte er herum, so daß die Kuh wütend wurde und geschlachtet werden mußte. Das Fleisch wanderte zum Metzger; der schob samt dem Gebrat den Däumling in einen Darm und machte Würste daraus. Als man mit den anderen Würsten auch jene, in welcher Hansl stak, ans Feuer setzte, hub er an erbärmlich zu schreien:

"Tut die Wurst heraus, tut die Wurst heraus, ich halt' es nimmer aus."

Die Leute meinten, es wäre eine arme Seele in der Wurst, und setzten sie voll Schrecken vom Feuer weg. Sie waren überaus froh, daß gerade ein Bettelweib des Weges kam, und schenkten ihr die halbgesottene Wurst. Das Weib setzte sich auf der Stiege nieder und riß die Wurst auseinander, um sie zu verzehren. In dem Augenblick machte sich der Hansl eiligst heraus, ohne gesehen zu werden und lief davon.

Wie viel man nun auch vom Daumenhansl zu erzählen weiß, so ist er doch wegen seiner Tücke bei den Leuten keineswegs beliebt. Da ,,keit" er der Bäuerin den Milch stotz um, dort gießt er das Wasser aus dem Krug auf den Boden, versteckt sich darauf eilends in einer Mauerspalte oder in einem Mauseloch und lacht aus vollem Halse über den gelungenen Streich, Hat einer etwas verloren und geht aus, es zu suchen, gleich ist der Hansl zur Stelle und ruft:

"Hier ist's."

Natürlich ist's nur gelogen, und wenn man hinkommt, ist der Schelm schon wieder weg, denn er kann sich unsichtbar machen, und schreit aus einem andern Winkel:

"Da liegt's"

und so fort und hält die Leute bloß für Narren und lacht in einemfort [sic] über den Schabernack. So macht er's überall und kommt doch immer mit heiler Haut davon, weil man den kleinen Kerl nicht sieht.

Quelle: Der Sagenkranz der Wildschönau, in: Heimat Wildschönau, Ein Heimatbuch, Dr. Paul Weitlaner, Schlern-Schriften Nr. 218, Innsbruck 1962, S. 125 - 155.
Siehe auch: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897, Nr. 44, S.80