Die Gefrorene Wand

In Hintertux, grad dort, wo heut' das Spannaglhaus steht, lag einst die größte und schönste Alm des Tuxertals. Das Gras war so fett, dass den Kühen der pure Rahm aus den Eutern rann. Der Überfluss verführte zum Übermut. Man vergaß, woher der Segen kam, und lebte kreuzfidel in den Tag hinein.

Es war an einem Sonntag, die Glocken riefen vom Dorf herauf zur heiligen Messe, die Almer aber lagen faul auf dem Stroh und dachten nicht daran, Gott die Ehre zu geben. "Was brauchen wir zu beten, wo wir doch genug zu essen haben", meinte einer, und die anderen lachten dazu. Nach dem Aufstehen fiel ihnen nichts Besseres ein, als mit den goldgelben Butterkugeln eine Art Kegelspiel zu veranstalten. Da flogen die großen Kugeln über die grünen Matten dahin, und wenn eine an einem Baumstamm zerplatzte, flogen mit einem Juchezer die Hüte der Spielgesellen in die Luft:

Bald wurde ihnen das Spiel zu eintönig, und so rollten sie die Butterkugeln über den Hang hinunter ins Dorf. Dabei zielten sie ausgerechnet auf die Kirche. Als die erste Kugel das Kirchentor traf, krachte ein furchtbarer Donnerschlag. Blitz auf Blitz zuckte aus dem blauen Himmel, eine schwarze Wolkenwand zog herauf und hüllte die Alm in tiefe Nacht. Dann kam der Regen und danach der Schnee. Drei Tage dauerte das Unwetter, und als sich die Wolken allmählich verzogen, war von der Alm nichts mehr zu sehen. Die Wiesen lagen unter meterhohem Schnee. Der Berg war zu Eis erstarrt und heißt heute noch die "Gefrorene Wand".

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Von ihrer Entstehung erzählt man sich noch eine Sage. Demnach gehörte die Alm einem reichen und habgierigen Bauern. Ein echter Leut- und Viehschinder soll er gewesen sein - und dazu ein Geizhals, an dem der Teufel seine Freude haben konnte.

Es war am Tag vor dem Hohen Frauentag. Der Bauer befand sich mit seinem Gesinde droben auf der Alm beim Heu-Eintun. Nach altem Brauch wurde an diesem Tag schon zu Mittag Feierabend gemacht. Davon wollte freilich der Bauer nichts wissen. Ehe nicht alles gemäht war, gab es für ihn kein Aufhören. Die Leute ließen sich von dem Brauch aber nicht abbringen und gingen zu Mittag heim. Nur der Großknecht blieb mit dem Bauern zurück. Bis tief in die Nacht hinein wurde gearbeitet. Dann zogen Nebel auf, und es begann leicht zu schneien. Am Morgen nach dem Hohen Frauentag lachte die Sonne vom Himmel. Da machten sich die Mäher auf den Weg zur Alm, um die Arbeit fortzusetzen. Je weiter sie aber hinaufkamen, desto höher lag der Schnee. Die Alm lag unter einer weißen Decke und aperte nicht mehr aus. Der Bauer und der Großknecht wurden nie mehr gefunden.

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 136f.