Das Fräulein am Niederkaiser bei St. Johann.



Sei der Wanderung vom Stripsenjoche durch das Kaiserbachtal und das lange Kohlntal öffnet sich außer Gasteig das weite, üppige Leuckental mit dem nett gelegenen Kirchdorf und dem ansehnlichen Dorfe St. Johann. Die Mauck- und Ackerlspitze ragen hier mächtig empor und drunten zieht sich von dem Wilden Kaiser her der lange Rücken des Niederkaisers, der sich hier in ganz ähnlicher Formation, aber von Osten her, an den Wilden Kaiser anschmiegt, wie sich drüben am Hinterkaiser die Schanzerwände mit der Teufelskanzel westlich abzweigen. Auch die Teufelskanzel hat ihr Gegenstück am Niederkaiser. Dort steht unter der Einsiedelei und des sangumklungenen Vogelsteines eine hohe, schlanke Felsensäule, das "Fräulein" genannt. Die Felsennadel trägt diesen Namen seit der Zeit, als noch die stattlichen Burgen Velben, Kummerstein und Aufenstein mit Wehr und Türmen von den Vorhügeln des Kaisers auf das schöne Leuckental herniederschauten.

Der Aufensteiner war ein böser Wütrich, Wallram von Kummerstein war hingegen weniger mächtig, dafür aber von dem edlen Velben beschützt. Der Aufensteiner erschlug Wallram, zerstörte sein Schloß und verfolgte in schnöder Lust Wallrams schönes Weib. Sie aber floh miit ihrem Kindlein und stürzte sich,, um ja nicht in die Hände dieses Grausamen zu fallen, mit dem Kinde auf dem Arme über einen Felsen des Kaisers. Am Fuße des Vogelsteines fand man sie tot, ihr Kindlein aber lebte noch. Der edle Velbe ließ sie begraben und nahm den jungen Wallram zu sich. Jungwallram und Günther, des Velben Sohn, wuchsen zusammen in ritterlichen Tugenden zu schönen Jünglingen heran. Heute noch heißt eine kleine Wallfahrt am Niederkaiser zum Einsiedler. Da lebte in der damaligen Zeit der Graf Stephan von Arpad als frommer Einsiedler, welcher die beiden jungen Ritter in frommer Wissenschaft belehrte und des alten Velben guter Freund war. Der Vogelweide wegen, die der Einsiedler mit vieler Liebe betrieb, hieß man die Einsiedelei und die sie überragende Felswand den "Vogelstein".

Da war einmal ein seltsames Treiben im Kaiser. Die Kaisergnomen kamen aus ihren Felsgeklüften, mit Lichtlein stiegen sie auf und nieder, indes vom Kaiser die Trauerklage  tönte. Der Priester mit dem Allerheiligsten wallte zum Schlosse des Velben, denn der alte Velbe Lothar war zum Sterben. An seinem Sterbebette kniete sein Sohn Günther und Jungwallram, dazwischen der Einsiedler von Vogelstein. Nochmal erhob sich der alte Velbe und übergab dem Einsiedler sein Testament für die beiden jungen Ritter, dann verschied er. Der Sturm sauste um den Kaiser und die alte Kaiserklage ertönte laut um einen echten, deutschen Mann von ritterlicher  Art und  Tat.

Doch draußen im dunklen Gebüsche huschte ein Ritter im schnellsten Laufe seines Rosses davon:  es war ein heimlicher Bote, der dem bösen Aufensteiner die Todeskunde vom alten Velben hinterbrachte. "Ha, die Buben werde ich vom Neste jagen und kein Stein der stolzen Burg der Velben soll mehr auf dem anderen bleiben," so  jubelte  der  Aufensteiner.

Traurig und leer war es im Schlosse der Velben. Jungwallram war beim Einsiedler am Vogelstein, und Günther saß trübe und nachdenkend am Erker der Burg hinaus in die Abenddämmerung. Zu lange währte es ihm, bis Wallram zurückkehrte, und so umgürtete er sich mit seinem Schwerte und ging hinaus in die Nacht, seinem Freunde  entgegen.

Auf seinem einsamen Wege wurde er durch ein plötzliches Geräusch aufgeschreckt; wie im Fluge stürmte eine weiße Frauengestalt auf raschem Rosse gleich einer flie-genden Fee vorüber. Noch stand er zweifelnd, ob es Wirklichkeit oder Schein wäre, da sah er das Pferd stürzen und die Gestalt sinken. Eilends trat er nahe, und siehe, ein Mädchen von ebenso edler, als jugendlich schöner Gestalt lag ohnmächtig am Boden. Er hob es auf und führte es in die nahe Zelle des Einsiedlers. Kaum hatten sie die  Schwelle überschritten,  stürzte der  Aufensteiner mit gezogenem Schwerte herein und rief: "Wer wagt es, mir meine Beute abzufangen?" Die jugendlichen Ritter Günther und Wallram zogen ihre Schwerter. "Halt!", rief der Einsiedler; "Schand' und Schmach dem Ritter, der solch' ein wehrloses Wesen verfolgt!" Wie vom Donner erschüttert, floh der Wilde Aufensteiner. Als sich das Fräulein durch des Einsiedlers Wunderkraut erholte, näherten sich Schritte der Zelle und eine Männerstimme begehrte Einlaß. Wie der Klausner die Tür öffnete, welche Freude! Mit dem Rufe: "Mein Vater!" — "Meine Irmgard!" lagen sich Vater und Tochter in den Armen. Es war der edle Graf von Lichtenstein und seine Tochter. Auf der Reise durch das Tal war durch des Aufensteiners Verfolgung das Pferd Irmengards erschreckt und sprang, scheu geworden, in die Dunkelheit des Waldes, wo sie den Blicken des  Vaters entschwand.

Günther lud den Grafen und seine Tochter auf sein Schloß, und alsbald waren er und Irmgard ein Herz und ein Sinn. Er bat den Fremden, auf seinem Schloß zu bleiben, sich zu stärken und zu erholen, aber trotz aller Bitten bestand der Vater Irmgards auf schneller Abreise. Als am anderen Morgen die Sonne ihre Strahlen in das Tal sandte, standen zum schmerzlichen Abschied unter dem Schloßtore der Velbenburg Irmengard und Günther, die sich Liebe und Treue geschworen. Während der Vater für die Gastfreundschaft und Rettung seiner Tochter innigst dankte, nahm Irmengard eine goldene Rose von ihrem Busen und steckte sie Günther zum Unterpfande auf sein Samtbarett. Günther hatte seinen Gästen seine besten Pferde und stattliches Geleite gestellt, und unter Hunderten von Grüßen zogen die teuren Gäste von der Burg hinab. Günther aber eilte in das Schloß zum Erkerfenster, wo er weit hinaus in die Straße des Leuckentales seiner Liebe nachsehen konnte.

***

Im Kaiser rauschte es wieder laut, stürmisch tosten die Winde und mächtig und kriegerisch ertönte wieder die alte Kaisersage in seinen Türmen und Gipfeln. Im Innern des Kaisers erheben sich die Gnomen im Kreise und in ihre Mitte tritt der alte  Zwerg  Amrich und spricht: "Im fernen Morgenlande haben die Sarazenen gegen Kreuz und Christentum sich erhoben, der Kaiser hat all' seine Getreuen zum Kampfe aufgeboten, und dabei fehlt Günther der Velbe und sein Genosse Wallram nicht. Laßt uns ihm ein Schwert schmieden, mit dem er unüberwindlich  für den Kaiser kämpft!"

Die Gnomen des Kaisers fertigten ein Schwert aus den edelsten Metallen und legten es dem Velben lm Schlafe zur Seite. Die beiden jungen Ritter zogen zum heiligen Kampfe, der Velbe mit dem Gnomenschwerte an seiner Hüfte und der goldenen Rose Irmengards auf seinem Helme. Als der Velbe im prächtigen Zuge der Ritter an Graf Lichtensteins Schlosse im Donaugebiete vorüberzog, und Irmengard, am Söller der Burg ihres Vaters stehend, die goldene Rose am Helme des Velben funkeln sah, erkannte sie ihren Bräutigam und der Velbe sah seine Braut wieder. In Freude und Glück lebte das liebende Paar eine Zeitlang auf dem Schlosse Lichtenstein. Doch sollte das Glück nicht lange währen. Danko, ein Ritter aus dem Ungarlande, war darüber in Eifersucht ergrimmt und schoß im Abenddunkel einen giftigen Pfeil in Irmengards Brust. Obwohl nicht getötet, war sie leidend und krank geblieben. Der Velbe und Wallram mußten wieder fort zum heiligen Kampfe in des Kaisers Diensten. Und als der Krieg beendet und der Velbe seine edle Braut zu sich nehmen wollte, lag sie am Sterbebette und verschied unter dem Schwure der ewigen Treue in seinen Armen. Der Velbe und Wallram zogen betrübt und trauernd hinauf zur Heimat in das Land Tirol, und aus weiter Ferne grüßten sie jubelnd des Wilden Kaisers Zinnen. Aber es harrte ihrer neues Leid. Der Einsiedler am Vogelstein war gestorben, und als sie der trauten Heimat sich nahten, fanden sie die mächtige Velbenburg vom bösen Aufensteiner zerstört. Da standen nun die ergrauten Ritter, die einst als Jünglinge von der stolzen Burg gezogen, an den Trümmern ihres Glückes. Die Mauerreste waren mit Moos umwachsen und von Epheu überrankt und der Wind pfiff aus und ein. Und als sie so trauernd auf der lieben Heimat Reste hinblickten, da trat aus den, Gemäuer ein altersgrauer Mann. "Das ist der Velben Günther," rief er plötzlich, "und der ist ohne Zweifel sein Bruder Wallram.   Ich war einst Kastellan dort im Schlosse Aufenstein, mein Herr ist längst von dannen und niemand weiß, wohin. Er wird nicht wiederkehren, doch ehe er dies Land verließ, mußte ich ihm schwören, hier zu warten, bis der einst wiederkehrt, der Eigentümer dieser Burg der Velben ist. Er raubte einstens diese Burg, aber es brachte ihm kein Glück, er bittet hiemit um Verzeihung und will es sein Leben lang büßen. So viele Jahre mußte ich, warten, denn der KIausner sagte mir, daß ihr gewiß kommt; endlich ist die Stunde gekommen: hier dieses Testament übergebe ich euch, der Ritter hat es geschrieben in letzter Stunde, als er von hier schied."

Günther las das Testament, das ihm auch, den Aufenstein zusprach. Aber ein anderer Entschluß reifte in den Herzen des ritterlichen Brüderpaares. Die Welt konnte ihnen nichts mehr bieten, darum wählten sie die Klause am Vogelstein zu ihrer Stätte, um mit edlen Wohltun ihren Lebensabend zu beschließen. "Laßt Zimmerleute Stämme fällen" , gebot Günther, "laßt Maurer kommen und Steine brechen, dann geht zum Bischof nach Salzburg und erbittet einen Meister zu einem neuen Bau. Dieser soll ein wohlbestelltes Haus erbauen für Pilger aller Zeiten, und eine Kirche soll erstehen dort an der Linde am Wege!"

Da wurde nun gebaut ohne Ruh und Rast, bald waren die Mauern erstanden und des Hauses Giebel ragte an der Stelle empor, wo einst im Schatten jener Linde Günther und Jungfrau Irmengard Abschied genommen. Die beiden Ritter zogen nun in das Haus und verlebten hier noch manches Jahr in der Klause am Vogelstein.

***

Abermals rauscht es von des Kaisers Zinnen lange und lange: denn droben in der Einsiedelei am Vogelstein ist das Lämpchen erloschen und das Waldglöcklein läutet nicht mehr. Aber Lichtlein erstehen tausende schier um den Vogelstein, und Amrich, der gute Gnome, kommt mit seiner Schar aus des Kaisers Tiefen hervor. Geöffnet ist die Türe der Klause und drinnen zeigt sich eine Lagerstätte, mit Purpur überkleidet wie ein Königsbett, darauf ruhen die  Velbenbrüder und atmen nicht mehr.

Vom Kaiser tönt so mächtig ein wunderbarer Klang,
Es rauschet von den Zinnen fast wie Triumphgesang!
Und wie auf Engelsfitt'gen im sternbesäten Kleid,
Schwebt nun zu ihren Häupten — welch' wunderbare Maid.
Die Rechte hält von Raute und Veilchen einen Kranz,
Mit Edelweiß durchflochten und hellstem Lilienglanz!
Auch eine Rose hatte die Jungfrau in der Hand,
An der sie jedes Blättchen ohn' allen Makel fand.

Es ist Irmengard. Lange hält sie die Sinnbilder edler Liebe und unverletzter Treue über den Häuptern des im Tode vereinten Brüderpaares. Dann aber ist alles verschwunden.

Jahrhunderte sind seitdem vergangen. Noch ragen des Kaisern gewaltige Zinnen zum Himmel empor und schauen hernieder, so ganz wie dazumal, auf die Täler und auf die Menschen, die zu ihnen kommen und wieder gehen. Auch das Haus mit den zwei Linden steht noch und das Kirchlein dort zu Spital auf der Weitau,- ein alter Marmelstein neben der Kirchenpforte besagt, daß anno 1262 ein Velbenritter das fromme Werk für die armen Pilgersleute   gestiftet   hat.

Das Velbenschloß aber ist verschwunden. Nur Wall und Graben sieht man noch ganz deutlich auf dem Hügel neben der Landstraße, den das Volk heute noch den "Schloßberg" und den Platz "auf der Byrg" heißt.
Auch der Hof, in dessen Nähe einst Wallrams Veste stand,   hat  noch  den  Namen  "Kummerstein".
Der Ort aber, wo der wilde Aufensteiner hauste, wurde "Saubichl" genannt und hat diesen Namen bis heute behalten, trotzdem man von jener Höhe eine der schönsten Aussichten auf das Tal genießt.
Das Gotteswerk am Vogelstein, die fromme Einsiedelei, besteht noch heutzutage. Auch die Gnomen des Kaiserberges haben sich noch einmal sehen lassen. Die Zwerglein bauten sich nämlich oberhalb der Klausnerhütte eine hohe, schlanke Felsensäule! die schaut noch jetzt zum Tal hernieder und ist ein bleibend Denkmal der Liebe und Treue, eine Erinnerung an die edle Irmengard, das schöne "Fräulein   vom   Niederkaiser". ( "Führer durch St. Johann und das Kaisergebirge" S.96: ... "Fräul. Turm" ... eine merkwürdige Felsennadel, Hier müßten natürlich milde Fräulein gehaust haben, die auch anderwärts, wie am Falken- und Rettenstein, den jungen Burschen gefährlich waren.)

Quelle: Sagen aus dem Kaisergebirge, Anton Karg, Kufstein 1926, S. 92
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Juli 2006.
© digitale Version: www.SAGEN.at .