AM TOTENSTEIN

Vor ungefähr achtzig Jahren ging ein Mann von Sölden, vulgo das Petermanndl genannt, zu Anfang des Winters übers Timmeisjoch ins Passeier. Wohl hatte er sich etwas spät auf den Weg gemacht, doch hoffte er noch vor Einbruch der Nacht Schönau, die erste Siedlung jenseits des Joches, zu erreichen. Doch hierin täuschte er sich. Als im mühsamen Anstieg durch Nebel und Schneesturm bei eisigkaltem Wind die Jochhöhe erreicht war, brach auch schon die Nacht herein, sodaß er den Weg verlor und den Abstieg wegen Absturzgefahr nicht mehr machen konnte. Nach längerem Umhertappen im Schnee stand er vor einem Felsblock, dem Totenstein. Warum er diesen Namen führt, ist leicht zu erraten. Jedenfalls hat man in früheren Zeiten einmal oder öfter erfrorene Wanderer zu seinen Füßen gefunden. Was auf diesen Jöchern für eine Kälte sein kann, davon ein Beispiel:

Gingen da zwei Männer von Sölden übers Timmeisjoch; der eine hatte eine Flasche Wein bei sich in der Westentasche und dreifach wollenes Gewand darüber. Der andere trug eine Flasche Schnaps mit sich. Auf der Jochhöhe angekommen, wollten sie einen Schluck nehmen, da war aber der Wein gefroren. Der andere, ein Schnapsliebhaber, führte seine Flasche zum Munde und sprach: Der Schnaps zum Beispiel gefriert nicht." Da riß ihm das Glas einen Fetzen Haut vom Munde fort als er es absetzte.

Als unser Wanderer am Steine angekommen, da fühlte er sich so müde und schläfrig, er setzte sich nieder und war nahe daran, in jenen Schlaf zu sinken, von dem es kein Erwachen mehr gibt. Schon streckte der Tod seine knöchernen Arme nach ihm aus, und er glaubte eine Stimme zu vernehmen, welche ihm zuflüsterte: Du gehörst mir, weiß du nicht, daß die Übergänge alle Jahre ein Menschenleben fordern, diesmal kommst du daran." Erschreckt sprang er auf. Um sich wach und warm zu halten, begann er um den Stein herum zu laufen ohne Unterbrechung die ganze Nacht. Mehr als einmal wollte er vor Müdigkeit umsinken, doch mit eiserner Willenskraft hielt er sich aufrecht. Und schließlich nahm auch diese Nacht ein Ende und als der Morgen graute und es soweit helle wurde, daß er den Weg wieder fand, da rief er laut: Tod, jetzt packst du mich nicht mehr". Mit Aufbietung der letzten Kraft gelang es ihm, nach Schönau hinab zu eilen, wo man ihn gastfreundlich aufnahm. Seine Hände und Füße waren aber schon so erfroren, daß man ihm später im Spital etliche Finger und Zehen abnehmen mußte. Daraus mag man schließen, wie nahe er am Erfrieren gewesen. Dieser Mann lebte zwar noch mehrere Jahre, aber im Winter übers Timmelsjoch ging er nicht wieder, denn mit Grausen dachte er zeitlebens an jenen nächtlichen Tanz um den Totenstein.

Gstrein, Franz Josef, Überlieferte Begebenheiten aus dem Ötztal, Innsbruck 1929, S. 16 ff.
aus: Sagen und Geschichten aus den Ötztaler Alpen, Ötztal-Archiv, Innsbruck 1997