DIE ZAHMEN VÖGEL

Vor vielen Jahren gingen einmal zwei Zimmerleute vom Ötztal übers Niederjoch, 3045 Meter, ins Schnalstal auf Arbeit. Sie trugen ihre Zimmerkarren mit den Arbeitsgeräten auf dem Rücken. Auf dem Niederjochferner angekommen, hüllte sie alsbald ein dichter Nebel ein, sodaß sie die Wegrichtung gänzlich verloren, und weder vorwärts noch rückwärts konnten. Lange Zeit irrten die beiden auf dem Gletscher herum, keinen Augenblick sicher, ob nicht einer in eine verdeckte Spalte stürze und nicht wissend, ob sie bis abends einen Ausweg finden würden. Denn hätten sie auf dem Ferner die Nacht zugebracht, so wäre wahrscheinlich der Erfrierungstod ihr Los gewesen. Plötzlich tauchte ein Schwärm kleiner Zugvögel aus dem Nebel auf, welche alsbald die Männer umringten und sich auf ihren Hüten, Schultern und Zimmerkarren aufsetzten, soviel nur Platz finden konnten. Dies war aber nicht geeignet, ihnen Mut zu machen, denn sie dachten sich, wenn selbst die Vögel nicht mehr ausfinden, wie wird es dann uns gehen? Doch nach einer Weile lichtete sich der Nebel etwas und die Schar der Vögel war ebenso schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Und bald darauf gelang es auch den zwei Männern, den Weg vom Gletscher hinab ins Schnalstal zu finden, wo sie ihr seltsames Erlebnis erzählten.

Gstrein, Franz Josef, Überlieferte Begebenheiten aus dem Ötztal, Innsbruck 1929, S. 18
aus: Sagen und Geschichten aus den Ötztaler Alpen, Ötztal-Archiv, Innsbruck 1997