Der Heilige Baum

Ein sagenhafter Ort, eine halbe Stunde von Nauders gegen Süden, herrlicher Waldboden ringsum. Hier sollen die Heiden im Ring Gericht gehalten und ihren Göttern geopfert haben. Der große Hügel, der dort gebildet ist, soll das Hünengrab sein.

Beim Heiligen Baum soll einst ein Schloß gestanden haben. Der Heilige Baum war ein uralter zwieseliger Lärchbaum mit schöner runder Krone. Vom Wind, Wetter und Alter zerrissen, war er später nur mehr ein Stumpf. Er soll 1855 umgehauen worden sein und es stehe noch der Stock. (Ich und kaum wohl jemand kennt noch diesen Stock.) Auch die Reste der Schloßmauern sollen unsere Voreltern noch gesehen haben, heute weiß niemand mehr etwas davon.

Von diesem Baume wird folgendes gesagt und erzählt:

1. Vom Heiligen Baum holt man die neugeborenen Kinder. Dies erzählt man den Kleinen noch heute.

2. In älterer Zeit galt der Grundsatz, daß man aus der Nähe des Heiligen Baumes aus heiliger Scheu weder Brenn- noch Bauholz nehmen dürfe. Selbst bei öffentlichen Holzverteilungen wollte niemand Holz aus der Nähe dieses Baumes erhalten. Lärmen und Schreien bei diesem Baume hielt man für großen Unfug. Fluchen, Streiten galt in der Nähe des Baumes für einen zum Himmel schreienden Frevel, der auf der Stelle gestraft werde. Deshalb wurde oft vor diesem Unfug gewarnt.

3. Es herrschte in älterer Zeit auch allgemein der Glaube, der Baum blute, wenn man hineinhacke, und der Hieb gehe in den Baum und in den Leib des Frevlers zugleich. Der Hieb dringe in beide gleich weit ein und Baum und Leibwunde bluten gleich stark. Ja die Wunde am Leibe heile nicht früher, als der Hieb am Baum vernarbe.

Eine Sage geht nun dahin, daß ein frecher Knecht sich vornahm, den Heiligen Baum zu fällen, um den Glauben des Volkes zuschanden zu machen. Er führte einen Hieb und schwang schon die Axt zum zweiten Male, als Blut aus dem Baume quoll und Blutstropfen von den Ästen niederträufelten. Der Holzknecht ließ die Axt vor Schrecken fallen und lief über Stock und Stein davon. Er fiel aber bald ohnmächtig zusammen und wurde später von Bauern, die ihn fanden, nach Hause gebracht, wo er erst am nächsten Tage zur Besinnung kam. Die Blutspuren blieben lange Zeit am Baume sichtbar.

Quelle: Dr. Hermann v. Tschiggfrey, Nauders am Reschen-Scheideck, Tirol, Innsbruck 1932, S. 42.