Die Goldquelle

Zwischen Reschen und Nauders liegt der Hof Tendres, darauf lebt noch der alte Tendreser Bauer, der erzählte Wort für Wort: »Jedes Jahr im Herbst kam ein Venedigermandl, in dunklem aber oft zerrissenem Gewande, wie ein Bettelmännlein, das auf meinem Hofe über Nacht lag, am andern Morgen gegen den grünen See hin bis an die Schweizer Grenze ging und abends wieder zurückkehrte. Da ich nicht begreifen konnte, was dieses Bettelmännchen in dieser Gegend alljährlich zu suchen habe, und da es in einem Tage weder Alpen noch Hütten oder Höfe erreichen konnte, wo sich etwas erbetteln ließ, so ging ich ihm nach und fand es am grünen See bei einer Quelle, wo es eben den Sand aus einem hölzernen Troge, in welchen die Quelle hineinrann, herausnahm, und in seinen Sack schüttete. Ich dachte mir nun: ‚Warte, warte, Männchen! Ich werde dir dieses Geschäft erleichtern und vor deiner Ankunft den Trog ausleeren. Ist der Sand etwas wert, so kann ich ihn auch brauchen, und wäre er nichts wert, so würdest du nicht jährlich hierherkommen und den Sand holen.’

Im nächsten Jahre gegen den Herbst ging ich zur Quelle, deckte die Steinplatten vom Troge ab und fand ihn voll Goldsand. Ich machte mich, obschon es sehr schwer war, damit nach Venedig, wo ich einem reichen Herrn denselben zum Kaufe anbot. Der Mann schlug die Hände zusammen und sagte: ‚O du reicher Mann! Ich habe nicht so viel Geld, um das Gold zu bezahlen. Aber gehe hinab in jene Gasse, dort findest du ein großes, aber verschlossenes Haus; klopfe an, und dort wird dir der reichste Mann von Venedig aufmachen, und dir deinen Sand abkaufen.’ Als ich in die Nähe des Hauses komme, ruft schon von weitem eine Stimme aus dem Palaste herab: ‚Tendreser Bauer! Komm herauf mit dem Gold!’ Ich begriff nicht, wer mich so weit von der Heimat kennen sollte, ging hinauf in das Haus und fand darin eine Pracht und einen Reichtum, dass mir völlig die Augen weh taten. Als ich in das Zimmer zum Herrn hintrat, fand ich auf einem goldenen Sessel sitzend das Bettelmännchen, das so oft bei mir über Nacht gelegen. Er stand auf, drohte mit dem Finger und sagte: ‚Du hast nicht ehrlich gehandelt, da du mir meinen Trog ausgeräumt hast. Weil du mir aber oft zu essen und Nachtlager gegeben hast, will ich dir für dieses Gold, das mir gehört, doch einen kleinen Taglohn geben.’ - Er gab mir für jeden Tag, den ich auf der Reise war, ein Goldstück, dann hielt er mir einen Spiegel vor; ich sah darin meinen Hof Tendres, und Weib und Kind auf dem Felde arbeiten, kurz alles so, wie wenn ich vor meinem Hofe stände; dann drehte er den Spiegel um, und ich sah die Quelle am grünen See mit dem Troge, dann wischte er über den Spiegel und sagte: ‚Jetzt geh nach Hause, und du wirst weder Quelle noch Trog mehr finden.’ Und so war es auch. Als ich nach Hause und zum grünen See kam, war es mir nicht mehr möglich, die geringste Spur von jener Goldquelle zu finden.«

Quelle: Johann N. Ritter von Alpenburg, Mythen und Sagen Tirols, Zürich 1857, Nr. 3, S. 321 f., zit. nach Sagen aus Tirol, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1992, S. 208 - 210.