VON SALIGEN UND RIESEN *)

Tausende von Jahren sind seither vergangen. Den Fuß des Tschirgants umspülte damals ein See, der fast das ganze Gurgeltal [Gurgltal] in seiner Länge und Breite ausfüllte und später Spiegelfreudensee geheißen wurde. Heute noch sieht man stellenweise gar deutlich den Damm, der die Wasser einengte. Der Weg vom Dollingerhof zum sogenannten Seehaus führt ja ein gutes Stück diesen Damm entlang. Auch der Name Seewald erinnert uns an jene weit zurückliegende Zeit.

Wo der Tschirgant zum Hang des ostwärts ziehenden Simmering abfällt, erhebt sich das Ungerköpfle. Dort befand sich dereinst die Höhle der Riesen, auch Götterhöhle genannt. Darin hauste als einer der Mächtigsten weitum der Riese Ecke oder Jordan mit seiner Gemahlin Fanga; ein Unholdenpaar, das die ganze Gegend unsicher machte.

Insbesondere auf die im Seewald wohnenden saligen (holden) Fräulein hatten es die beiden abgesehen. Deren Höhle im Bereiche des Greutlehnerbaches besaß zum Glück nur einen geheimen Zugang, nach dem die Riesen vergeblich forschten. Die Ureinwohner des Gurgeltales [sic] aber hüteten sich wohl, diesen zu verraten, denn sie hielten gute Nachbarschaft mit den Saligen.

Wohl war es ihnen strenge verboten, deren Höhle zu betreten, dafür kamen die ebenso schönen wie hilfsbereiten Feen gar häufig in die Wohnungen der Menschen, lehrten die Bäuerinnen kochen und spinnen, übernahmen die Krankenpflege, übten Wohltaten auf Schritt und Tritt.

Eines Tages aber brach doch das Unheil über die Saligen herein. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen war es dem Riesen Ecke gelungen, ein saliges Fräulein abzufangen, und zwar gleich die schönste und liebreichste ihres Geschlechtes. Er schleppte sie nach seiner Höhle am Ungerköpfle, dort mußte die Bedauernswerte, die auf den Namen "Hittehatte" hörte, als Sklavin Fangas den Haushalt führen, sowie andere für ihren feingliedrigen Wuchs und ihr elfenzartes Wesen viel zu schwere Arbeiten verrichten. Dabei war es ihr strengstens untersagt, die dunkle Höhle auch nur für einen Augenblick zu verlassen. Kein Wunder, daß sie sich halbblind weinte vor Heimweh, daß ihr das Herz vor Freiheitsdrang zu zerspringen drohte.

Was bekümmerte dies das Unholdenpaar, sie lachten und spotteten höchstens der Röte dieses überzart besaiteten Feengeschöpfes. Hittehatte wäre wohl in solch trostloser Gefangenschaft verstorben, hätte ihr nicht ganz von ungefähr das Stündlein der Befreiung geschlagen. Das kam folgendermaßen:

Der Riese Ecke verfolgte eines Tages zwei beerensuchende Buben, die er sich gerne bei lebendigen Leibe gebraten hätte. Doch flüchteten sie, sprangen kopfüber in den See und schwammen glücklich ans andere Ufer. Sprachlos vor Staunen stand da der Tölpel von einem Riesen, bis endlich die dumme Frage aus seinem Munde quoll: "Was soll ich tun, daß ich auch hinüberkomme?"

"Häng dir den größten Felsklotz um den Hals", lautete die bündige Antwort, "so trägt dich das Wasser!" Er tat, wie ihm geheißen, hüpfte mitsamt der Malterlast in den See und ertrank.

Als Ecke zur gewohnten Frist nicht heimkehrte, machte sich Fanga sogleich auf, ihn zu suchen. Hittehatte aber nützte deren Abwesenheit, um durch einen irrtümlich offengelassen Spalt der Felsenhöhle zu entkommen. Wiewohl das Unholdenpaar reich an Schätzen aller Art gewesen war, nahm sie doch nichts weiter mit, als eine der kohlschwarzen Katzen. Ihr Lieblingstier an der Brust bergend, floh sie auf kürzestem Wege zutal, pochte im Seehaus drüben ans Tor, bat um Einlaß und machte sich erbötig, ums bloße Essen als Magd zu dienen.

Die Seehausleute willigten gerne ein. Hittehatte zeigte sich sehr tüchtig und brav und in allen Dingen des bäuerlichen Betriebes gar wohl erfahren. Mit ihr zogen Glück und Wohlstand ins Haus, seine Bewohner machten Sonntagsgesichter das ganze Jahr hindurch ...

Bald erfuhren auch die Saligen vom Tode ihres Erzfeindes Jordan. So forschten sie nun überall nach dem Verbleib ihrer liebsten Schwester Hittehatte. Deren seidiges Goldhaar, deren Vergißmeinnichtaugen, nicht zuletzt deren allzeit sonnenfrohes Wesen vermißten sie gar lange schon und so hatte jede einzelne sich verschworen, die so sehr Vermißte auszukundschaften und in den Kreis der Gemeinschaft zurückzuführen. Jeden Wanderer befragten sie nach Hittehatte, in alle Winde riefen sie den trauten Namen.

Als eines Abends ein Bauer, der seine Ochsen am Imster Markt verkauft hatte, mit dem Ochsenjoch wieder heimzu stapfte und unterhalb des Dollingerhofes gerade den Seedamm entlang schritt, rief es vom jenseitigen Talhang herüber: "Du Ochsenjochtrager, sag der Hittehatte, der Riese Jordan ist tot, sie soll heimgehen, sobald als möglich!"

Der Bauer, der im Seehaus zur kurzer Rast verweilte, erzählte dort ahnungslos von dem erhaltenen Auftrag, während die Leute das Abendbrot verzehrten. Wie staunten alle, da Hittehatte auf die wenigen Worte hin den Löffel fallen ließ und vor Schreck erstarrte. Bloß einen Hahnenflug lang. Schon erhob, verabschiedete sie sich der Reihe nach von groß und klein, um dann der Türe zuzuschreiten. Dort stand sie forschend, als erwarte sie von ihren Dienstgebern das letzte Wort. Diese würgte es wohl in der Kehle, jedoch vermochten sie vor Abschiedsweh kein Silblein hervorzubringen.

Hittehatte überbrückte das Schweigen.

"Hättet's mi mehr gfragt, so hätt i enk mehr gsagt!" meinte sie gedankenvoll.

Gleicherzeit umschmeichelte etwas ihre Füße. Ihre feine, schmale Hand hob die schwarze, vor Behaglichkeit schnurrende Katze hoch, die sich sogleich an die Brust der Jungfrau schmiegte. Der Abschied von diesem Tierlein, das Freud und Leid stets so redlicherweise mir ihr geteilt, schien Hittehatte am allerschwersten zu fallen. Endlich legte sie die Katze in den Schoß der Hausmutter und ermahnte diese: "Den haarigen Wurm fleißig füttern, so bleiben Glück und Segen im Haus!" Damit ging sie endgültig, abgewandten Gesichtes, um ihre Tränen zu verbergen.

Noch langezu erfreuten sich die Gurgeltaler [sic] des segensreichen Wirkens der Saligen vom Seewald. Erst als Habgierige selbst das Holz rund um ihre Höhle schlägerten, wurde den holden Frauen das Bleiben verleidet. Sie zogen waldwärts, zeigten sich immer seltener, bis sie schließlich ganz ausblieben.

Und Fanga, das wilde Weib? Unermüdlich suchte sie nach ihrem so plötzlich verschwundenen Ehegemahl. Suchte landauf, landab, suchte und suchte. Und wenn sie nicht gestorben ist, so sucht sie ihn noch heute.

*)Zusammenfassung der drei Sagen: Die drei Saligen auf dem Ungarberge, Hitte-Hatte, Wie der Riese Jordan umgekommen ist; aus Mythen und Sagen Tirols von Alpenburg.


Quelle: Imster Geisterbrevier, Hermann J. Spiehs, Imst 1936, Seite 60