DIE GEISTERSEHER

Immer wieder gab und gibt es in Imst Leute, die vorzeitig um das Ableben ihrer Nebenmenschen erfahren. Sie sehen diese teils im Traum, teils im wachen Zustande "übers Bargle gehen."

Ein solcher Geisterseeher war der Schlempeshans. Schon als kleiner Bub hatte er das zweite Gesicht und öfter als einmal versetzte er die Mitwelt dadurch in Schreck und Staunen. Meist dauerte es bloß mehr zwei Tage, bis auf seine Gesichte hin der Todesfall eintrat.

Eines Morgens erzählte er seiner Mutter: "Denk dir, heut' ist gar einer in Uniform übers Bargle gangen, mit vielen Medaillen an der Brust!"

"Also ein Soldat?"

"Ja, aber ganz anders angelegt wie unsere Offiziere."

Zwei Tage später, am 9. August 1854 verunglückte König Friedrich August von Sachsen mit seinem Eselsgespann tödlich auf der Karrerstraße. Er lag in Brennbichl öffentlich aufgebahrt. Als nun besagtes Büblein an der Hand der Mutter, einem allgemeinen Brauche folgend, "beten" ging, zeigte es auf den in eine Uniform gekleideten, mit vielen Orden geschmückten Leichnam des Königs und rief ganz laut: "Mutter, der da ist es gewesen! Grad in der Tracht hab' ich ihn gesehen, wie er übers Bargle gangen ist!" ...

Ein anderer Geisterseher war der Pfarrmesner Hans. Einmal meldete er dem neueingestandenen Kooperator: "Hochwürden, jetzt kriegen's Arbeit. Es trifft gleich zwei auf einen Tag!" Der Geistliche schüttelte als ein in Geistersachen ungläubiger Thomas den Kopf und erklärte unumwunden, daß er von derlei Mutmaßungen nichts halte.

"Also gut," ärgerte sich der Mesner, "so werde ich sie Ihnen das nächstemal persönlich in den Widum schicken, hoffentlich tun s' Ihnen den Schlaf nit verderben. Recht gute Nacht!"

Damit waren sie auseinander gegangen. Der Hans hielt Wort. Als die Seelen der zwei Berglwallfahrer ihn um Mitternacht bedrängten, gab er ihnen den Auftrag, den Herrn Kooperator aufzusuchen, da dieser Dringendes mit ihnen zu besprechen hätte. Im Nu hörte der Spuk in seiner Kammer auf, aber tags darauf beschwor ihn der entsetzte Priester: "Alles, nur das nimmer! Die halbe Nacht hab' ich kein Aug' zumachen können, vor lauter haben sie mich verfolgt. Der Ungläubigste müßte dabei gläubig werden!"

Der Pfarrmesner Hans drang nicht weiter in ihn, er wußte sich aus eigenem genug.


Quelle: Imster Geisterbrevier, Hermann J. Spiehs, Imst 1936, Seite 51