Die silberne Gans

Vor uralten Zeiten ist in der Schlick drin im Stubaithal [Stubaital] ein Schloss gestanden; da hat ein Ritter gehaust, ein waidlicher Degen. Einmal des Nachts hat's draußen "schiach gewittert" und ist zum Schlossherrn ein zwei Zoll langes Ung'schichtl gekommen und hat um Nachtherberge gefragt. Der Ritter aber wollte von solch wildfahrigem Volk nichts wissen und hat das Zwergl fortgejagt. Das Zwergl hat ein Weilele gegreint und gesagt, es werde dem Herrn schon einen Tuck anthun. Darnach kam ein nobler Herr und fand natürlich gastliche Aufnahme. Am anderen Tag sagte er: "Guter Freund, geh mit, ein hübsches Fräulein soll aus Kerkersnacht befreit werden." Der Schlossherr war geschwind dabei, und sie ritten davon. Nach einer Weile hielten sie vor einem Klösterlein mitten im Walde, und der Ritter gieng hinein. Da lachte der Fremde höllisch, lupfte sein Hütlein, und zwei kleine Hörner schauten durchs kohlschwarze Haar. Es ist der Teufel gewesen, den der Zwerg gedungen hatte. In der Klosterkirche sah der Ritter, wie die Oberin einem Fräulein ihr blondes Haar abschneiden wollte, um sie einzukleiden. Der Zwerg, der unsichtbar hinter dem Ritter stand, flüsterte diesem zu, das sei seine Braut, man habe sie mit Gewalt ins Kloster gebracht, er solle sie nur herzhaft befreien. Der Ritter hat geglaubt, es sei eine Stimme vom Himmel, hat die Oberin greinen lassen und das Fräulein mit sich genommen aufs Ross. Das blonde Ding war's zufrieden, und schon, wie sie beim Schlicker See ankommen, hat's dem Ritter zugesagt, seine Schlossfrau zu werden. In dem Augenblick aber wurde sie in eine silberne Gans verwandelt und flog vom Rosse herab in den See.

Der Ritter grämte sich und starb bald darauf, sein Schloss wurde zu Stein, und er selber muss am Schlicker See umgehen. Die silberne Gans wäre zu richtiger Stunde zu heben, wenn nur der Rechte käme. Ich bin's nicht, bist du's?

Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897,
Nr. 11, S. 55f