Wie die große Stadt Heidach bei Wörgl versank

Vor uralten Zeiten, als die Unterinntaler sich noch selber einen guten Tropfen zügelten und ihn nicht aus dem Etschland zu holen brauchten, stand unten bei Wörgl herum die große und vornehme Stadt Heidach. Sie war so groß, dass sich ihre Straßen und Häuser vom Schmelzwerk Heidach oder Kastengstatt bis auf Nöstelbühel erstreckten. Dahinter erhoben sich die Berge, welche das hübsche Tal Wildschönau umschließen. Dieses Tal war damals noch ein tiefer, tiefer See, vier Stunden lang und zwei breit; der ganze See war voller Fische, aber auch voll gräulicher Wasserungetüme, unter denen eine riesige Wasserschlange die Ufer rundum unsicher machte.

Nun war aber Heidach ehemals eine römische Garnisonsstadt gewesen, und nahmen darin die wälschen Unsitten so sehr überhand, dass sie weit und breit von keinem Orte an Zügellosigkeit überboten ward. Daher konnte die Strafe nicht mehr lang aus fein. Der Wasserdrache im See von Wildschönau begann den Talriegel, der das Wasser untenher verschloss, zu zernagen und bohrte ein ungeheures Loch hindurch, also dass zuletzt der See seinen Ausfluss nahm und seine gewaltigen Sturzwellen der sündigen Stadt zuwälzte. Mit dem Wasser polterten zahllose Felstrümmer die Tiefe hinunter und rollten ebenfalls verderbenbringend gegen Heidach. Die Stadtmauern konnten dem mächtigen Andrange nicht lange widerstehen, und in der Zeit eines Sonnenlaufes waren Straßen und Häuser versunken und begraben. Kein Menschenleben konnte gerettet werden, und kein Haus, kein Palast, kein Tempel zeigte fürder die Stelle an, wo die stolze Stadt gestanden. Das Wasser des ausströmenden Sees schwellte den Innfluss hoch an, und die Verwüstungen desselben erstreckten sich bis nach Ungarn hinab, wo die Kreuzfahrer, die damals auf der Donau gen Constantinopel [Konstantinopel] fuhren, arg davon betroffen wurden. Aber auch die Wasserschlange, durch welche das Verderben der Stadt herbeigeführt worden war, ging zugrunde. Sie wurde selbst von den wilden Wogen mitgerissen und in eine Felsenspalte hineingezwängt, aus der sie sich nicht mehr herauswinden konnte. Das verendete Untier verbreitete nun in der ganzen Gegend einen solchen Pestgestank, dass alle jene Menschen, die das Wasser verschont hatte, in der Pestluft dahinstarben.

Acht Stunden Länge talauf und talab waren im Unterlande nur mehr zwei Menschen am Leben geblieben, ein Bauer und eine Bäurin. Sie gingen beide, Menschen zu suchen, und begegneten sich auf einem Joche ob Niederau, wo sie sich, erfreut, ihresgleichen zu finden, um den Hals fielen und einander gelobten, beisammen zu bleiben und für die Fortpflanzung der Menschen zu sorgen.

Der Platz, wo die beiden sich gefunden hatten und das eine um das andere so froh war, als wär's ein Engel vom Himmel, heißt davon noch heute das "Halsgatterl". Es ist ein Holzgatter, hoch oben auf dem Übergang vom Notterberg zur Holzalpe gelegen. Später sollen einzelne Überreste der zerstörten Stadt ausgegraben, auch ein Helm und Panzer an der Stelle aufgefunden worden sein.

Das "Halsgatterl" in der Wildschönau, Tirol © Gottfried Opperer

Das "Halsgatterl" in der Wildschönau
© Gottfried Opperer, 23. Juli 2009

Diese Volkssage erinnert wohl an ältere Wasserausbrüche, zugleich aber auch an den schwarzen Tod des 14. Jahrhunderts und an Zuwanderung nach der Wildschönau, vielleicht vom Brixental her.

Das "Halsgatterl" in der Wildschönau, Tirol © Gottfried Opperer

Das "Halsgatterl" in der Wildschönau
© Gottfried Opperer, 23. Juli 2009


Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897,
Nr. 52, S. 88ff