Der Kreuzwiesengeist

In früheren Zeiten war auf dem Gerlosberg viel vom Kreuzwiesengeist die Rede. Auf der Kreuzwiesenaste wollte damals kein

Senner mehr Dienst tun, so unheimlich ging es dort zu. Schlag Mitternacht kam ein weißes Ross in die Hütte gesprungen und sorgte für gehörigen Aufruhr. Erst wenn einer der Almer zum Weihbrunnen griff, preschte es zur Tür hinaus und galoppierte den Anger hinab. Die Almleute übernachteten lieber im Freien. Bald aber ging dem Bauern überhaupt niemand mehr auf die Aste, was der Wirtschaft nicht förderlich war.

Nun war aber, als die letzten Almer den unheimlichen Ort verließen, das Kübelkreuz vom Butterkübel auf der Aste vergessen worden. Das aber brauchte der Bauer. Darum fragte er den jüngsten Knecht, ob er sich getraue, das Kübelkreuz zu holen. Der Bub wusste wohl von dem Spuk, hatte aber auch gehört, was die Leute darüber sagten, dass es nämlich die arme Seele eines Wilderers sei, der ohne Reu' und Büß' erschossen worden sei und jetzt auf der Kreuzwiesenaste geistern müsse, bis ihn jemand erlöse. Darum nahm sich der Jungknecht ein Herz und stieg nach Feierabend zur hochgelegenen Aste auf. Es war fast Mitternacht, als er oben ankam. Kaum stand er vor der Hütte, hörte er drinnen lautes Gepolter. Der Bub zögerte nicht und öffnete die Tür. Da lag das weiße Ross in der Stube. Kurz entschlossen tat der Knecht einen Satz darüber, nahm das Kübelkreuz an sich und sprang wieder zurück.

Da begann das Tier zu reden: "Leg mir das Kübelkreuz auf den Bauch und spring dreimal über mich!" Der Bub tat es, und nach dem dritten Sprung stand das Pferd auf, preschte den Anger hinunter und verschwand in der Nacht. Der Bub nahm das Kübelkreuz, trat aus der Hütte und verriegelte die Tür. Als er sich umdrehte, stand ein Jäger vor ihm und sagte: "Jetzt bin ich erlöst." Der mutige Knecht aber erbte nach des Bauern Tod den Hof.

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 64f.