Struzzi-Buzzi

Sagen von Fanggenkindern, wie sie im Oberinntale und auch in Vorarlberg im Schwange gehen, kennt auch das Paznauntal. Sie ähneln einander sehr und weichen nur in den Namen ab. So kam zu Langetsthei, wo nach dem Sprichwort "nicht einmal der Stubenboden waagrecht liegt", einst zu einem Bauersmann ein Mädchen von ganz hübscher Gestalt und Gesichtsbildung in einfacher Dienstbotenkleidung und bat ihn, es in Dienst zu nehmen, was der gute Mann aus Erbarmen auch tat. Das Mädchen diente viele Jahre fleißig und redlich, und es schien ein besonderer Segen mit ihm eingezogen zu sein; nur vermochte niemand desselben Namen und Herkommen zu erforschen. Auf dem Lande herrscht die Sitte, daß die Bauern an gewissen Sommertagen die Alpen besuchen, um die Menge der Milch ihrer dort aufgetriebenen Kühe zu untersuchen. Da werden die Kühe eines jeden Bauern in bestimmter Ordnung gemolken, die Milch gewogen und nach diesem Verhältnis dann die Butter und Käse (der vorrätige Alpennutzen) entweder gleich oder zur Zeit der Heimfahrt verteilt. Jener Bauer schickte zu diesem ländlichen Feste seine Dienstmagd, welche sich auf der Alpe mit den vielen Anwesenden mit fröhlichen Scherzen unterhielt, wie es nach der Milchberechnung der Brauch ist. Aber plötzlich hörte man vom Gebirge in der Nähe eine weibliche Stimme rufen: "Sag zur Struzzi-Buzzi, Rauhrinde sei tot!" Auf diesen Ruf erbleichte das Mädchen, riß sich von der Gesellschaft los und rannte in aller Eile in den nahen Wald, ohne ein Wort zu sagen, ohne den verdienten Lohn zu fordern. Nun wußte kein Mensch, wer das Mädchen war, woher es gekommen und wohin es gegangen, auch war nie mehr eine Spur von demselben zu entdecken. Es war ein Fanggenkind.


Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 212.